Das Seminar im Schatten des Krieges

Im Südsudan herrscht nach einem halben Jahrhundert Krieg ein kalter Friede. Verfeindete Volksstämme unter Waffen belauern einander. Im einzigen Priesterseminar sollen aber junge Männer all die Übel ihres Landes überwinden und zu Friedensstiftern werden. Kann das gelingen?

Text: Christoph Lehermayr Fotos: Simon Kupferschmied
20 min Lesedauer

Reportage zum Anhören: Das Seminar im Schatten des Krieges

Juba International Airport. Eine rumpelige Piste. Ein paar abgestellte Flugzeuge. Das größte stammt vom „World Food Programme“ und enthält UNO-Nothilfe in Form von Essensrationen. Der jüngste Staat der Welt empfängt mit Hitze und Hunger. Wer hier landet, gehört entweder der klitzekleinen Elite des 2011 vom muslimischen Norden abgespaltenen Landes an und trägt feinen Maßanzug. Oder arbeitet für eine der internationalen Hilfsorganisationen, die versuchen, das Überleben der Mehrheit der Menschen zu sichern. Verlässt man den Flughafen der Hauptstadt, bietet Juba wenig Erbauliches, eher den unverstellten Blick auf das Elend. Ein gescheiterter Staat sei dieser Südsudan, ist den Listen der Unregierbarkeit zu entnehmen. Ganz oben einzig und allein in allen Statistiken des Übels: von Analphabetismus und Armut bis zu Kindersterblichkeit und der Zahl der im Umlauf befindlichen Schusswaffen. Ein Land am Abgrund.

Dabei hatte alles so hoffnungsvoll begonnen, damals, als nach Jahrzehnten des Krieges der christlich geprägte Süden dem arabischen Norden endlich den eigenen Staat abrang. Es herrschte Freude über das Ende der Unterdrückung durch die Muslime. Barack Obama lud Salva Kiir, den neuen Präsidenten mit dem Cowboyhut, ins Weiße Haus ein. Und selbst ein George Clooney ließ Hollywood hinter sich, reiste nach Juba und machte viel an Hilfsgeldern locker. Bis alles von vorne begann. Nur mit vertauschten Rollen. Krieg untereinander. Etliche der insgesamt 64 Volksstämme gegeneinander. Erneut 400.000 Tote und irgendwann ein wackeliger Friede, der durch viel Korruption gekittet wird und jederzeit auseinanderbrechen kann. Würde die Geschichte an dieser Stelle enden, sähe man sich wohl in so manchem landläufigen Vorurteil über Afrika bestätigt. Tut sie aber Gott sei Dank nicht.

172 Männer und ein Weg

Ein rostiges Tor öffnet sich. Ein Wachmann grüßt. Links steht ein kleiner eingerüsteter Marienschrein. Dahinter beginnt ein Fußballfeld mit Toren ohne Netze. Entlang des Weges wuchern Sträucher in kräftigem Grün, gewaltige Bäume bilden ein Spalier. Es wirkt verwildert und dabei doch gleich um so viel besser als alles, was draußen liegt. Junge Männer in weißen Soutanen marschieren zielgerichtet zwischen ziem-lich zerborsten aussehenden Gebäuden. Willkommen im St. Paul’s Major Seminary, dem einzigen Priesterseminar des Südsudans.

172 junge Männer studieren hier. Erst drei Jahre Philosophie, um ein Fundament zu erhalten, auf dem ihre Berufung aufbaut. Danach vier weitere Jahre Theologie, die das nötige Rüstzeug für die Nachfolge Jesu liefern sollen. Was es an Inhalten braucht, damit man Priester wird, unterscheidet sich in der katholischen Welt von Kontinent zu Kontinent kaum. Erst Latein, dann Altgriechisch, später selbst Hebräisch als Grundlage und darauffolgend eine Tiefbohrung in Bibelstudium, Dogmatik und Morallehre. Das ist die Theorie. Die Praxis aber ist alles andere als das, was man sich vielleicht in Europa ausmalen würde.

Befreundete Feinde

„Wir sind hier immer noch in einer Phase der Erst-Evangelisierung, ganz im Unterschied zu anderen christlichen Staaten Afrikas wie etwa Uganda, Kenia oder dem Kongo.“ Das sagt Father Baptist Franco, ein hemdsärmeliger, gut gelaunter Mann, der gut kaschiert, welch schwere Aufgabe auf ihm lastet. Er ist der Rektor des Seminars und hat an allen Fronten zu kämpfen: Draußen mit einer Gesellschaft, die weiter nach archaischen Regeln funktioniert: Zahn um Zahn, erst Rache, dann vielleicht Recht. Viele Stämme, viele Sprachen, ein hoher Grad an Misstrauen, noch mehr Konflikte, gerade in einem Land, wo die meisten Tag für Tag ums Überleben kämpfen. Sein Seminar musste in den Jahrzehnten des Krieges gleich fünfmal übersiedeln. Rektor Baptist selbst wurde noch in Khartum, der Hauptstadt des damaligen Gesamt-Sudans, ausgebildet. Erst nach der Unabhängigkeit erfolgte die Rückübersiedelung nach Juba. „Das ist das Umfeld, aus dem unsere Seminaristen kommen“, sagt Rektor Baptist: „Und dennoch oder gerade deswegen wollen sie dem Ruf Gottes folgen.“

Zwei von ihnen hat er zu sich gerufen. Sie heißen Zachariah und Alphonse, sind hochgewachsene Männer, 27 und 29 Jahre alt, und wären wohl mit großer Wahrscheinlichkeit Feinde – würden sie nicht hier sein, sondern draußen aufeinandertreffen. Zachariah stammt aus der Ethnie der Bari, einem sesshaften Volk von Ackerbauern. Alphonse wiederum zählt zu den Mundari, einem Nomadenstamm von Viehzüchtern. Im Südsudan, wo es mehr Rinder als Menschen gibt, sich alles um diese Tiere dreht und die mit der Kalaschnikow verteidigt werden, eine klassische Konfliktlinie. „Ja, Freunde wären wir sonst wohl kaum geworden“, sagt Alphonse und blickt zu Boden, „dafür haben unsere Politiker schon gesorgt. Dass wir einander ständig belauern und misstrauen, bekämpfen und bekriegen.“ Das „sonst“ aber ist das Seminar, der Ort, der einen Unterschied macht und zur Stelle der größten anzunehmenden Versöhnung werden kann. Für die Kirche und das Land. Im Idealfall zumindest.

„Die Studenten kommen aus den sieben Diözesen des Südsudans und den zweien des Sudans und damit aus allen Stämmen“, sagt Rektor Baptist und erklärt die Herkulesaufgabe, vor der er zu Beginn eines jeden Jahrgangs steht: „Wir, also das Kollegium, müssen von Anfang an darauf achten, dass sich keine Gruppen nach Stämmen bilden, sondern sich alle gut durchmischen. Das fängt mit der Sprache an. Erlaubt sind nur Englisch und Arabisch. So kann jeder mit jedem sprechen, aber nicht einige nur untereinander.“ Das Kollegium aus neun Padres, die die Priesterstudenten nicht nur unterrichten, sondern auch mit ihnen auf dem Gelände wohnen, hält es genauso. Auch sie sind ein Abbild ihres Landes, entstammen unterschiedlichen Ethnien und leben Gemeinschaft vor.

Ziemlich beste Freunde

Von Alphonse und Zachariah geht eine augenblickliche Güte aus. Das merkt man, wenn sie einen über den Campus führen, miteinander plaudern und scherzen und in jeder Geste ganz natürlich ihre Wertschätzung für den anderen zeigen. „Sobald man einander kennenlernt, merkt man, dass das, was so über Leute aus anderen Stämmen gedacht und erzählt wird, meist nichts mit dem konkreten Menschen zu tun hat“, sagt Zachariah: „Aber viele in unserem Land haben ein großes Interesse daran, dass es erst gar nicht zu diesem Kennenlernen kommt, da ihre Macht und ihr Einfluss davon abhängen, dass Gräben bestehen bleiben.“ Alphonse nickt zustimmend.

So unterschiedlich die Herkunft der beiden ausfällt, so ähnlich ist doch deren Berufungsgeschichte. Das wird klar, als an einem Nachmittag, an dem die beiden ein paar Stunden frei haben, Verwandtschaftsbesuche angesagt sind. Zachariah nimmt Alphonse mit zu seiner Familie, die vor Jahren vom Land in die Hauptstadt übersiedelte. Über staubige Straßen geht es vorbei an Verschlägen und Hütten zum Häuschen seines älteren Bruders Luis, der dort mit seiner Familie und der Mutter lebt. Schulterklopfen, Umarmungen, viel Herzlichkeit.

„Eigentlich“, sagt Luis, der Bruder, „wäre ich auch gerne Priester geworden. Ich war schon im Seminar, aber dann starb unser Vater und ich musste mich um die Mutter und die Familie kümmern. Umso stolzer sind wir alle, dass Zachariah diesen Weg nun zu Ende geht.“ Auch Alphonse fühlt sich sofort wohl im Kreis der Familie seines Freundes. Sprachlich hilft man einander, damit jeder alles versteht, und bevor es zurück ins Seminar geht, beten alle am Grab von Zachariahs Vater.

Ein Priester, ein Geschenk

„Du hörst diese Stimme in dir und weißt in deinem Innersten bereits, dass es die einzig wahre ist, auch wenn du dich vielleicht anfangs noch dagegen sträubst, es dir einzugestehen“, sagt Alphonse am nächsten Tag über seine Berufung, die auch direkt mit dem Vater verbunden ist. Wieder ist Nachmittag, wieder haben die beiden Freunde vom Rektor die Erlaubnis erhalten „zu schwänzen“, damit der Gegenbesuch bei Alphonses Familie stattfinden kann. Es geht hinaus zu seinem Cousin, der Händler ist und sich einen bescheidenen Wohlstand erarbeitet hat. „Mein Vater war mein Vorbild, ein einfacher Mann, ein Bauer, draußen auf dem Land“, erzählt Alphonse, „aber er lebte den Glauben und tat alles, damit es meinen acht Geschwistern und mir gut ging. Er ließ uns alle taufen, das war ihm wichtig. Und wenn es möglich war, gingen wir weit zu einer Heiligen Messe. Denn bei uns im Dorf und der Umgebung gab es nur Katechisten, die Wortgottesdienste abhielten. Als ich dann aber einen echten Priester sah und diese Vertrautheit spürte, wusste ich, wo mein Weg liegt. Gerade eben, weil es bei uns viel zu wenige Priester gibt und zugleich viel zu viel an Nöten, derer wir uns annehmen müssen.“

Zachariah nickt, als er Alphonse die ganze Zeit über zuhört. Die Jahre im Seminar haben die beiden zu reflektierten, abwägenden und zugleich scharfsinnigen jungen Männern geformt. „Geschenke!“, wie sie Michael, Alphonses Cousin, nennt, „denn jede Familie kann sich glücklich schätzen, einen Priester in ihren Reihen zu haben, da er uns alle näher zu Gott führt.“ Auch hier vergeht die Zeit wie im Flug. Kinder werden geherzt, Späße gemacht und Avocados geteilt. „Familie“, sagt Alphonse, „ist alles. Und sie wird es auch bleiben. Aber für uns angehende Priester wird diese Familie bald um einiges größer werden. Denn ich möchte in jedem dieser Menschen meiner künftigen Gemeinde den Bruder und die eigene Schwester sehen.“

 

Ein Seminar in Nöten

Und doch ist längst nicht alles heile Welt und ganz einfach. Gerade auch im Seminar. Als das Kollegium in einem der Gebäude, durch dessen Wände sich dicke Risse ziehen, gemeinsam frühstückt, bricht es aus einem von ihnen heraus wie eine Salve an Kugeln aus einer Kalaschnikow: „Wir alle kommen aus dem Krieg. Wir alle haben geliebte Menschen sterben sehen. Wir alle haben in Gewehrläufe geblickt und Erfahrungen gemacht, die kein Mensch jemals machen sollte. Der Krieg ist Teil meines Lebens geworden. Das spüre ich in meinem Charakter, meinem Verhalten, meiner Art, die früher eine andere war. Und ich arbeite an mir. Wir alle arbeiten an uns. Aber wir leben zugleich in einem Staat, wo die Menschen da draußen seit sieben Monaten keine Löhne mehr erhalten haben und trotzdem jeden Tag zu ihrer Arbeit gehen und irgendwie an Geld gelangen. Und hier, dieses Seminar. Ist es ideal? Nein. Die Gebäude bröckeln, in vielen Ecken liegt Müll, unser Wasser hier lässt sich nicht trinken, unserer Bibliothek fehlt es an allem …“ Irgendwann stoppt er. Schaut hoch und schnauft. Es ist Father John Vonjo, der stellvertretende spirituelle Koordinator, der hier in voller Offenheit aussprach, was Rektor Baptist vermutlich in diplomatischere Sätze gekleidet hätte.

Und es ist die Wahrheit. Das Seminar ist fernab eines perfekten Ortes. Keiner der Priesterstudenten wäre hier ohne die Unterstützung der Priesterpaten von Missio (s. Kasten Seite 16). Denn sie alle stammen aus Familien, die zu arm sind, als dass sie sich die 100 Dollar an Jahresbeitrag, den die jungen Männer selbst aufbringen sollten, leisten könnten. Die Bischofskonferenz steuert zwar Gelder bei, doch auch die ist arm. Missio hat große Tanks finanziert, damit genug Wasser zum Duschen da ist und Solargeneratoren beschafft für all die Zeiten, in denen der Strom ausfällt, was mehrmals täglich der Fall ist. Doch genug Nöte bleiben.

Der oberste Hirte in Juba

Das weiß auch einer, dem der Südsudan ein besonderes Anliegen ist. Voriges Jahr reiste Papst Franziskus selbst nach Juba. Alphonse und Zachariah erhielten die Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Gemeinsam mit den anderen Seminaristen hörten sie seinen Appell, wahrlich das „Salz der Erde zu sein“. Denn „auch wenn wir Christen schwach und klein sind, unsere Kraft angesichts der Größe der Probleme und der blinden Wut der Welt gering erscheint, können wir einen entscheidenden Beitrag zur Veränderung der Geschichte leisten.“ Besonders ihnen, den künftigen Priestern und vielleicht gar Bischöfen dieses Landes, kommt die Rolle zu, „das Salz“ zu sein, „das sich ausbreitet und großherzig löst, um dem Südsudan den geschwisterlichen Geschmack des Evangeliums zu verleihen“, sagte Franziskus und sprach von „leuchtenden christlichen Gemeinschaften, die ein Licht des Guten auf alle werfen und zeigen können, dass es schön und möglich ist, großherzig zu leben, Hoffnung zu haben und gemeinsam eine versöhnte Zukunft aufzubauen.“

Priesterpatenschaften

Missio Österreich unterstützt durch Priesterpatenschaften aktuell weltweit 4.166 Priesterstudenten in 41 Priesterseminaren, davon 28 in Afrika. Das St. Paul‘s Major Seminary ist seit 1984 Partner von Missio.
Die heimischen Patinnen und Paten unterstützen ihre Seminaristen durch Gebet und Geld. Zudem hilft Missio gemeinsam mit der MIVA und BBM in vielen Seminaren, die Infrastruktur zu verbessern und zusätzliche Einkommensquellen zu schaffen.

Weitere Infos dazu auf www.priesterpatenschaften.at

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