Wunder aus der Steppe

Ein Muslim malt die erste kasachische Madonna. Eine Österreicherin baut eine gewaltige Kathedrale in der Steppe. Und atheistische Sowjetmenschen finden zum Glauben. Wundersame Geschichten aus einem Land der Extreme. Eine Reportage aus klirrender Kälte voll herzergreifender Wärme.

Text: Christoph Lehermayr Fotos: Francis Amomonpon
17 min Lesedauer

„Es vergehen Jahrzehnte, die Narben und Geschwüre verblassen mit der Zeit und damit für immer. Manch eine Insel ist inzwischen erschüttert worden und zerronnen, das Eismeer des Vergessens lässt seine Wogen über sie hinwegrollen.“

Alexander Solschenizyn, Der Archipel Gulag

Diese Geschichte muss dort beginnen, wo für viele die eigene endete: dem Straflager. Der Blick gleitet aus dem Fenster der einstigen Kommandantur. Draußen liegt knöchelhoch Schnee und die Temperatur bei 22 Grad unter Null. Auf einem Sockel ruht eisig ein Lenin aus weißem Stein. Drinnen, der Schreibtisch des Lagerleiters, grüner Filz auf Holz, dahinter das Sowjetbanner, darüber das Porträt Stalins. „Samstags und sonntags spielte immer das Gefangenenorchester“, sagt die Führerin in dem heutigen Museum, „damit man die Schreie der Gefolterten im Keller nicht hörte.“

Gläubig im Gulag

Mitten in der Steppe Kasachstans tut sich ein Blick in den Höllenschlund auf. Karaganda lautet der Name dieses Ortes, hinter dem sich der Abgrund verbarg. Ein weit verzweigtes Lagersystem des Grauens so groß wie ganz Frankreich, gigantisch beschrieben im „Archipel Gulag“ vom Literatur-Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn, der selbst dort inhaftiert war. Das Böse bekam im Genossen Stalin ein Gesicht. Es blickt von einer Landkarte, die tief hinab in seinen Wahnsinn führt. Jeder Punkt darauf steht für ein Lager, einen Ort der Verbannung und die ehemalige Sowjetunion war davon übersät. 18 Millionen Menschen verschwanden von 1930 bis 1953 darin – 18 Millionen! Das ist zweimal ganz Österreich.
Erschüttert starrt nun eine Ordensschwester auf ein Foto. Es zeigt Frauen mit Kindern auf dem Arm und Tüchern um den Hals, in denen sie letzte Habseligkeiten haben. Das Bild stammt aus dem Jahr 1941 und dokumentiert die Deportation von über einer Million in der UdSSR lebender Wolga-Deutschen. Nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion erging Stalins Erlass, sie sofort weit hinter den Ural zu verfrachten. Gepfercht in Viehwaggons, landeten viele in Karaganda und damit in der weißen Hölle des kasachischen Winters. „Der Herr ist mein Hirte“, steht in Frakturschrift auf einem erhalten gebliebenen Blatt Papier aus einer der Baracken – und die Ordensschwester, die all das betrachtet, findet ihre Antwort, auf welch tragischem Weg das Katholische nach Kasachstan geriet.

 

Von Vorarlberg nach Sibirien

Und dann, nach einer Fahrt vorbei an gewaltigen Kohleschächten, die die Gefangenen damals ausheben mussten und die bis heute in Betrieb sind, nach zwanzig, dreißig Minuten inmitten einer Mordor gleichenden Industrie-Dystopie aus Stahlwerken, Minen und schwarzem Rauch, die Stadt selbst, erbaut von den Überlebenden der Lager, und darin: eine Kathedrale! Imposant in ihrer neugotischen Eleganz, verkleidet in edlem, hellem Sandstein, mit zwei 60 Meter hohen Türmen und goldenen Kreuzen darauf. Ein Anblick wie aus einer anderen Welt und ein Wunder für alle, die erstmals von der Geschichte ihrer Entstehung erfahren.
Oder hätten Sie, geneigte Leserinnen und Leser, je zuvor davon gehört, dass eine Vorarlbergerin im 6.000 Kilometer entfernten Kasachstan eine Kathedrale bauen ließ, sie dafür sechs Millionen Euro sammelte, Menschen aus aller Welt begeisterte, und Handwerker aus Österreich, Deutschland und Südtirol so ein Stück Heimat in die Steppe stellten?

Die Rede ist von Agnes Ritter, einer Gastwirtin vom Viktorsberg, hoch über Feldkirch. „Eine gläubige, liebenswürdige Frau, sehr offen, einfach, eine aus dem Volk, eine aus den Bergen, sportlich, aktiv, die ein Leben lang geschuftet hatte“ – das erzählt André Charton, ein Wegbegleiter aus Frankreich. Entsprechend verdattert war diese Agnes, als ihr in Visionen die Gottesmutter erschien. „Ein weites Land, im Hintergrund eine Bergkette. Auf dem Hügel steht ein weißes Gebäude. Das Bild kommt näher, und ich stehe jetzt am Ufer eines Flusses. Ich sehe ein langgestrecktes Gebäude mit hohen Fenstern. Rechts kommen zwei Türme dazu. Ich denke, es ist eine Kirche“, so begann die Niederschrift dessen, was Agnes sah und das sich allmählich konkretisierte. Es führte nach Russland, wo diese Kirche im Altai-Gebirge stehen und zur Stätte der Begegnung und des Friedens werden sollte. „Die Gottesmutter erklärte mir, dass viele Menschen kommen werden, besonders Jugendliche, auch viele Arme aus der ganzen Welt. Sie sagte, das sei die Kirche aller Nationen.“

Fatima – Mutter aller Nationen

Was dann passierte, sobald sich Agnes entschied, ihrer Vision zu folgen, macht sprachlos: In den 1990er-Jahren reiste sie zig Male ins sibirische Altaigebirge, fand dort tatsächlich die Stelle am Wasser, die ihr von der Jungfrau Maria genannt worden war. Agnes setzte Berge in Bewegung, gründete mit drei ihrer Vorarlberger Freundinnen einen Verein, sammelte Geld, Genehmigungen, überwand unzählige Hürden und tat alles, um den Bau zu beginnen.
Vergeblich. Der dortige Bischof sträubte sich. Ein Heiligtum, eine Pilgerstätte, bei uns im Altai? Keine Chance. „Die arme Frau“, erinnert sich André Charton, „sie hatte die Zustimmung des Vatikans, scheiterte aber am örtlichen Klerus. Selbst der Himmel ist machtlos, wenn der Mensch frei entscheidet.“ Daheim in ihrem Kirchlein am Viktorsberg bat sie Maria um Erlösung. Zwei Jahre verstrichen. Eine Fügung führte nach Karaganda, 1.500 Kilometer westlich des Altais und zum dortigen Erzbischof. Der hatte das umgekehrte Problem: Schon lange träumte er von einer anständigen Kirche, allein es fehlte ihm am Geld dafür. 2004 löste sich der Knoten. An nur einem einzigen Tag fanden die beiden zusammen. Hier am einstigen Ort der Verbannung und des Leides sollte sie entstehen: die Kathedrale Unserer Lieben Frau von Fatima – Mutter aller Nationen.

 

Österreich in der Steppe

Wird im fernen Barcelona auch nach 140 Jahren noch an Gaudís „Sagrada Família“ gebaut, vermeldete Karaganda nach acht Jahren die Fertigstellung. Ein Gewaltakt im Osten, wo schon „Eden“ lag, Jesaja „Gottes Ehre kommen“ sah und „von wo Jesus im Zeichen des Kreuzes wiederkehren wird“, wie Weihbischof Athanasius Schneider, einer der Bauherren der Kathedrale, in einem Rundschreiben festhielt. Diese ergingen in all den Jahren an die treuen Spenderinnen und Spender in Österreich und aller Welt. Ohne sie hätte kein einziger Stein auf den anderen gesetzt werden können. „Wem immer Agnes von ihrem Vorhaben erzählte, der war gerührt und gab“, erinnert sich André Charton und erwähnt sogleich eine weitere Person, die eine wesentliche Rolle spielte: Werner Perfler. Auch er aus Vorarlberg, auch er ein Tausendsassa, auch er bescheiden in seinem Tun. „Ich habe halt geschaut, dass das was wird auf der Baustelle, auch technisch“, sagt er. Was simpel klingt, lässt jedem, der schon einmal selbst baute, die Grausbirnen aufsteigen.

In Kasachstan steigerten sich diese ins Extrem: beginnend bei der Bürokratie und endend in der Witterung, mit brütend heißen Sommern und eisigen Wintern, wo 35 Grad minus eher normal als selten sind. Perfler gelingt das Unmögliche. Muslimische Maurer aus Dagestan im Kaukasus bringen in 70 Eisenbahnwaggons den kostbaren Sandstein herbei und freuen sich, Maria mit ihrer Arbeit zu würdigen. Handwerker aus Österreich, Deutschland und Südtirol sorgen für den Feinschliff. Spender aus Ischgl finanzieren die Glocken, die in Innsbruck gegossen werden. Das Dach, gegen Kälte und Schneestürme geeicht, kommt ebenso aus Österreich wie die Turmkreuze, die Portaltüren und -treppen, die Orgel, der Kreuzgang und Teile des Altars. Unten, in der Krypta, schaffen Vorarlberger Krippenbaumeister gemeinsam mit Künstlern aus Südtirol zwei herrliche Werke. Unzählige stellen sich uneigennützig in den Dienst. Wer da nicht gläubig war, hätte in diesem Unterfangen wohl ein Werk des Wahnsinns vermutet. Jene aber, die Agnes Ritters Vision teilten, sahen darin klar nur eines: einen Akt der Vorsehung.

Und sie behielten recht. Spätestens, als 2012 in der neuen Kathedrale die Töne der Schubert-Messe Nummer 2 in G-Dur erklangen, Kardinal Sodano aus dem Vatikan angereist war, und er im Beisein von muslimischen wie orthodoxen Geistlichen, Karagandas Kirchenvolk und Spendern aus 30 Nationen die Einweihung dieses prächtig verzaubern-den Gotteshauses feierte. Agnes Ritter, die 2017 zum Herrn heimging, hatte ihr Versprechen eingelöst.

Vom Muslim zum Christ

Heute, gut zehn Jahre später, lassen sich Brautpaare beobachten, die direkt vom Standesamt für Fotos in die Kathedrale huschen. Muslime wie Orthodoxe, die hereinspähen und die Statuen bewundern, darunter jene von Kasachstans erstem Seligen, einem Opfer der kommunistischen Verfolgung. „Die Schönheit wird die Welt retten, sagte schon Dostojewski“, meint der Hausherr, Bischof Adelio Dell’Oro und berichtet von Taufen und Konversionen. Das, was sich Weihbischof Schneider einst wünschte, nämlich ein Marienheiligtum, eine Sühnekirche an der Stätte früherer Vertreibung und Verfolgung, aber auch einen Ort der Evangelisierung, ist wahr geworden.

Eines der erstaunlichsten Beispiele dafür sitzt nur ein paar Kilometer weiter im einzigen Priesterseminar von ganz Zentralasien: Ruslan Rachimberlinov ist ein Sohn Karagandas, die Mutter orthodox, der Vater muslimisch. „In der Sowjetunion glaubte die Partei, sie sei Gott“, sagt er, „wie das ausging, merkte man dann ja auch.“ Er selbst sah sich schon früh als Suchender, der die Leere, welche das Ende des Kommunismus hinterlassen hatte, füllen wollte. Er erzählt von Ordensschwestern, die er in seiner Jugend kennenlernte und die ihn verblüfften, weil sie so unvoreingenommen und offen auf ihn und seine Freunde zugingen. Ein Buch, das sie ihm gaben, faszinierte ihn dabei besonders: die Lebensgeschichte von Don Bosco. 1999, zu Ostern, ließ sich Ruslan schließlich taufen. Schon eineinhalb Jahre später trat er ins Priesterseminar ein. Und heute ist er dessen Rektor. Nach und nach konvertierte seine ganze Familie zum katholischen Glauben, selbst der muslimische Vater. „Früher hieß es hier, ein Kasache ist ein Moslem, ein Russe orthodox und ein Russland-Deutscher eben katholisch. Aber diese starren Grenzen beginnen sich aufzulösen. Das alte Fundament der Kirche hier bricht weg, aber ein neues kommt hinzu.“ So befinden sich im Seminar, das Ruslan leitet, Männer aus ganz Zentralasien auf ihrem Weg zum Priestertum.

Madonna in der Steppe

Nicht endendes Weiß, geformt aus Kälte und Schnee, nur unterbrochen von wilden Pferden, die über das flache Land galoppieren. Kasachstan ist der größte Binnenstaat der Erde, eines der am dünnsten besiedelten Länder der Welt, und wer von Karaganda in Richtung der Hauptstadt reist, bekommt ein Gefühl für diese Dimensionen. Und plötzlich ist sie da, Astana, die auf dem Reißbrett entworfene Hauptstadt, ein Glanzort aus Glas und Stahl, noch vor kurzem benannt nach ihrem Erschaffer, dem nun in Ungnade gefallenen ersten Präsidenten des Landes, Nursultan Nasarbajew.

Alles hier ist pompöser, reicher, würdiger als sonst wo im Lande. Die Orthodoxen bauten eine schmucke Kathedrale, die Muslime eine Moschee wie aus Tausendundeiner Nacht, und alle waren sie vergangenen September dabei, als Papst Franziskus in der Stadt weilte. Anlass dafür bot der Internationale Kongress der Religionsführer, den Kasachstan zum siebten Mal ausrichtete. Damals medial wegen der Kosten kritisiert, dreht Erzbischof Tomasz Peta den Spieß um und meint, „zwei Minuten Krieg kosten weit mehr als zwei Tage Verständigung.“ Ein Satz mit viel Wahrheit beim Blick auf Russlands Krieg in der Ukraine, aus dem sich Kasachstan trotz Drängen Moskaus unter allen Umständen heraushalten will. „In diesem Land leben mehr als 50 Ethnien und acht Religionen friedlich zusammen“, sagt Peta, „sie würdigen einander und wir Katholiken erhalten von staatlichen Organen Weihnachtswünsche, während sie in manch liberalen Staaten des Westens durch sogenannte ‚Saisongrüße‘ ersetzt werden.“
Dann führt er hinab in die Kathedrale und zu einem Prachtstück, das schon der Papst segnete: Die Madonna in der Steppe – eine Gottesmutter mit kasachischen Zügen und ihrem Jesuskind im traditionellen Gewand auf dem Schoß. Gemalt hat es der heimische Künstler Dosbol Kasymow voller Elan und Stolz. Eine Ehre sei ihm das gewesen, sagte der Maler. Er ist ein gebürtiger Muslim. ●

 

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