Unser Mann in Syrien

Er ist Österreichs jüngster Missionar und auf gefährlichem Einsatz: In Syrien, einem Land gequält von zwölf Jahren Krieg, Sanktionen und zuletzt dem Erdbeben. Wie der Jesuit Gerald Baumgartner dort Leben verändert und seine Berufung fand.

Text: Christoph Lehermayr Fotos: Salem Azrak
18 min Lesedauer

Draußen liegt die Stadt: ein Gerippe an Häusern, bloße Skelette aus bröckeligem Beton. Zerschossen, zerbombt, zerstört. Davor ein klappriger Bus und sein Fahrer, ein junger Mann mit rötlichem Bart und Brille im schwarzen Hemd. Wann, fragt er sich, war wohl der Moment, als er aufhörte, entsetzt aufzuschrecken beim Blick auf diese Stadt, die längst zu seiner wurde. Gerald Baumgartner ist 29, stammt aus Münzkirchen, einem beschaulichen Ort im Innviertel, und lebt seit gut zwei Jahren in Syrien.

Gerys größtes Experiment

Drinnen im Hof der Jesuiten fallen die letzten Strahlen der Abendsonne auf das alte Gemäuer. Rund um einen Brunnen, zwischen Yuccapalmen und einer knorrigen Kiefer, sitzt eine Gruppe junger Frauen und Männer im Kreis. Sie lachen, scherzen und sind dann doch wieder todtraurig. „Seit neun Jahren komme ich abends her“, sagt Rita, die nun 21 ist: „Damals war alles kaputt, kein Strom, kein Licht, nur hier gab es ein paar Lampen. Wir trafen uns, beteten und spürten bald diese magische Verbundenheit.“ Eine junge Gemeinschaft, bereit das Christentum, das sie trägt, an andere weiterzugeben. Und „Gery“, wie sie den Österreicher hier alle nur nennen? „Der ist einer, der einen Raum zum Glühen bringen kann“, sagt Rita, „er ist verantwortlich für uns Katechisten, aber da war nie eine ungute Distanz, sondern immer diese Ruhe in ihm, eine Würde, wie ich sie sonst noch bei keinem erlebt habe.“

„Alles war kaputt, kein Strom, kein Licht, nur hier gab es ein paar Lampen. Wir trafen uns, wir beteten und spürten bald diese Verbundenheit.“

Rita

Als draußen der Muezzin zum Gebet ruft, erzählt Gery drinnen von seinem Weg voller Fügungen. Er führte ihn gleich nach der Matura zum Auslandszivildienst nach Jerusalem. Was folgte, war eine Ahnung, eine stille Stimme. Aber seine Mail ans Priesterseminar kam wegen eines Serverabsturzes nie an. Stattdessen begann er, Theologie zu studieren und verliebte sich prompt dabei. „Ich konnte mir damals vorstellen, diese Frau zu heiraten, später Kinder mit ihr zu haben, glücklich zu sein“, sagt er und man glaubt es ihm. „Aber zugleich machte mich dieses Bild unruhig, so als ob etwas fehlte und da auch etwas anderes, ich will nicht sagen Besseres, sein könnte.“ Sein geistlicher Begleiter an der Uni, ein Jesuit, empfahl Exerzitien. Dabei wurde die Stimme stärker, die Berufung spürbarer. Als Gery es seiner Freundin gestand, dachte sie, er lüge und würde sie betrügen. Doch längst hatte sein Zug Fahrt aufgenommen: Eintritt bei den Jesuiten, Noviziat in Nürnberg, Philosophie-Studium in München, dazwischen immer wieder „Experimente“: Ein Erkunden fremder Erfahrungswelten, wie es für die Ausbildung der Jesuiten typisch ist. Gery wird also Hilfspfleger auf der Onkologie in Wien, arbeitet mit Jugendlichen in Innsbruck und hilft Roma-Kindern im Kosovo. Und er schweigt. 30 Tage lang. „Jeder Jesuit macht das mindestens zweimal im Leben und erbittet von Gott die Bestätigung für diesen Weg, auch bis ins Extrem.“ Dabei reift Gerys Wunsch, sich weiter zu erproben. Am liebsten im arabischen Raum.

Das Martyrium von Homs

Die Stadt Homs in der Mitte Syriens. Das Zentrum erster Aufstände gegen den Machthaber Baschar al-Assad, Stätte unfassbarer Zerstörung, ein Stalingrad unserer Zeit. Aber auch eine frühe Wiege des Christentums, bedroht von Islamisten, die bald die 2011 friedlich begonnene Revolution gekapert hatten. Als Gery den Ort, an den ihn sein Orden sendet, googelte, hielt er kurz die Luft an. „Homs also, in das Haus des Ordens, wo nur zwei Jahre zuvor ein Mitbruder genau in diesem Hof hier ermordet wurde.“ Gery zeigt zum Grab von Frans van der Lugt und betet. Der aus Amsterdam stammende Jesuit war in fünf Jahrzehnten in Syrien zum personifizierten Sinnbild der Verständigung zwischen Christen und Muslimen geworden. Ein Prediger des Gemeinsamen, der auch blieb, als alle gingen, die christliche Gemeinde von 10.000 Menschen auf 60 Familien geschrumpft war, es nichts anderes mehr gab als Häuserkampf und Hunger, der aber dennoch für Versöhnung warb. Am Ende erschossen ihn Maskierte. Jetzt zieren seine Fotos die Wände im Hof, der zu Gerys neuer Heimat werden sollte.

Dort sitzt mit Diala eine weitere Katechistin und Verwundete dieses Krieges. Sie berichtet von Bomben, die direkt vor ihr einen Bus explodieren ließen, von Raketen, die das Nachbarhaus trafen. Und sie erzählt von ihrem tiefen Glauben, der sie nicht verrückt werden ließ. Gleich zu Beginn des Kriegs wurde ihr Vater, der für eine Ölfirma gearbeitet hatte, entführt. „Bis heute wissen wir nicht, was mit ihm geschah. Doch ab da waren wir auf uns allein gestellt. Meine Mutter, meine zwei jüngeren Schwestern und ich.“ Diala wurde wie so viele in Syrien zu einer Kämpferin. Mit 16 fing sie an, zu arbeiten, damit die Familie über die Runden kam. Nebenbei studierte sie Pharmazie und simulierte für sich und ihre Schwestern eine Art von Alltag im Ausnahmezustand. Erst wenn sie abends zu den Jesuiten ging, konnte sie endlich sie selbst sein. Verletzlich und verwundet. „Es ist wie Gery vorhin in der Runde sagte: Sie arbeiten hier an uns als Menschen, bedingungslos, voller Liebe, ohne Vorgaben und Erwartungen.“ Erst so schuf sich Diala einen Ausweg. Sie springt auf und winkt, „kommt mit, ich zeig ihn euch!“

Mit Marilyn auf Mission

An der Tür zu Gerys Zimmer klebt das Poster einer Blondine im Kleid. „Unter dem Make-up und dem Lächeln blieb ich das Mädchen von nebenan“, steht als Spruch auf Englisch neben ihr. „Ja, Marilyn Monroe begleitet mich immer“, sagt Gery und grinst, „es ist ein Aufruf: Nimm dich selbst nicht zu ernst, sei offen für Gott und brich auch mal mit allzu starren Regeln!“ Anders hätte wohl auch seine Ankunft im Arabischen kaum geklappt. Die Sprache lernte er rasch, aber die verheerende Versorgungslage setzte ihm zu. 15 Kilo nahm er gleich in den ersten drei Monaten ab und lebt seither so, wie es alle hier in Homs tun. Strom gibt es maximal für eine Stunde am Tag. Ein Solarpanel am Dach reicht gerade, damit der Kühlschrank halbwegs läuft. Im Winter, der auch in Syrien bitterkalt ausfällt, rinnt nur eiskaltes Wasser aus seiner Dusche. Derart gestählt, stürzt sich Gery in seine Mission.

Nachdem Regierungstruppen Homs zurückerobert hatten, kehrten die in andere Landesteile geflohenen Christinnen und Christen allmählich in das Viertel rund um das Jesuiten-Haus zurück. Kirchen stehen dort Tür an Tür: syrisch-katholisch, chaldäisch, griechisch-orthodox – der ganze Reigen des Orients auf engstem Raum. Vieles war zerstört, so auch die St. Marien-Kirche: Erbaut auf einer Untergrundkirche aus dem Jahre 50 nach Christus, ist dort die Reliquie des Gürtels der Gottesmutter bewahrt. So schwierig es schon schien, die Gebäude wieder aufzubauen, so verwegen bleibt es, die Seelen zu heilen. 

Dialas Weg ans Licht

Eine, der das halbwegs gelang, steht in einem hellen Raum vor einem Gemälde. Ihrem Gemälde. Ein Mann verschwindet darin im schwarzen Hintergrund. Hände greifen nach ihm. Blut dringt aus seinem Körper. „Es ist mein Vater, der Entführte“, sagt Diala, „und es ist mein Weg, diese Tragödie der Verschwundenen, um die sich keiner mehr kümmert, zu zeigen.“ Eine Woche malte sie ohne Unterlass und weinte dabei. Sie ließ zu, dass alles in ihr aufbrach: die Wunde, die die Entführung hinterließ und die Ungewissheit, die blieb. „Man geht von 16.000 verschleppten Menschen aus“, sagt sie, „doch in einem Krieg werden Opfer zu reinen Zahlen.“ Als sie ihr Gemälde vorstellte und erste Nachrichten von Menschen erhielt, die ihr Schicksal teilen, begann sie zu ahnen, wie groß das Leid derer da draußen sein muss – und wie sehr ihr die Katechisten-Gruppe drinnen bei den Jesuiten geholfen hatte, ihr eigenes zu verarbeiten.

„Und doch will sie weg“, sagt Gery später über Diala, „sie alle wollen weg.“ Er führt durch Homs. Erst im rumpelnden Bus über Straßenzüge voller Zerstörung, später zu Fuß, auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz. „Rebellenhochburg“ nannte man Syriens drittgrößte Stadt zu Beginn eines Krieges, der zum größtmöglichen Albtraum des frühen 21. Jahrhunderts ausarten sollte. Assad und die mit ihm verbündeten Iraner und Russen auf der einen Seite. Islamisten, aufmunitioniert von Saudi-Arabien und Katar, auf der anderen. Und dazwischen: besonders die Christen. „Dieses Stadtviertel hier etwa“, sagt Gery und deutet auf bröckelnde Bauten, „das hat im Krieg sicher zehnmal die Seiten gewechselt.“ Bis alles vorbei schien, waren Millionen von Menschen geflohen und mindestens eine halbe Million umgekommen. Es herrschte Stille. Totenstille. Und die Hoffnung der Überlebenden auf ein Aufatmen. Aber, so sind sich alle Jungen in Gerys Runde einig, das Gegenteil geschah: die Preise stiegen ins Unermessliche, die Währung kollabierte, die westlichen Wirtschaftssanktionen, die eigentlich den Machthaber schwächen sollten, trafen stattdessen die Menschen ins Mark. Diala, die Pharmazie fertigstudierte und bei einer Pharmafirma arbeitet, verdient umgerechnet 120 Euro im Monat und zählt damit schon zu den Gutbezahlten. Ein Schuster, ein Bäcker, ein Bauer, ihnen allen bleiben 20 Euro im Monat, um nicht zu sterben, aber kaum zu überleben. Zahlen der UN gehen von zwölf Millionen Menschen aus, die in Syrien akut von Hunger bedroht sind und warnen vor einer humanitären Katastrophe.

Als die Erde bebte

Zu einer solchen geriet schon das Erdbeben Anfang Februar, das besonders im Norden Syriens, rund um Aleppo, Furchen der Zerstörung zog und Abertausende obdachlos
gemacht hatte. „Wir spürten es auch hier sofort“, erinnert sich Gery, „da hunderte Familien zu uns nach Homs flohen.“ Noch in der Nacht trommelte er seine Kollegen beim Flüchtlingsservice der Jesuiten (JRS) zusammen, sammelte mit ihnen Kleidung und Matratzen und schnürte Lebensmittelpakete. Spenden von Missio Österreich stellten die Versorgung sicher. Diala, Rita und dutzende weitere Freiwillige schoben mit Gery Tag- und Nachtschichten, um 600 Familien zu versorgen. In bitterer Kälte und ohne Strom halfen sie jenen, die alles verloren hatten und von denen bis heute viele auf sie angewiesen sind. Irgendwann, in all dem Chaos, das nach Ordnung verlangte, in all dem Leid, das über sie hereinbrach, spürte Gery seine Hände nicht mehr, sah hinunter und ertastete Frostbeulen. „Diese Zeit hier“, wird er später sagen, „hat mich auf den Dienst als Priester vorbereitet. Ich lebe nicht länger für mich selbst, sondern für die anderen, und damit für Jesus, der in jedem von uns steckt.“

Welche Zukunft aber kann dieses gemarterte, ausgezehrte Syrien seinen Menschen noch bieten? Gerade den Jungen, den Gebildeten, solchen wie Rita oder Diala, die nach Jahren des Kämpfens kaum noch können. Auswandern ist für sie zur fixen Idee geworden. Nicht illegal fliehen, übers Land oder das Meer, sondern legal reisen, als willkommene Fachkräfte nach Europa oder Amerika. Diala, die Pharmazeutin, hat den langwierigen und teuren Antragsweg fast vollendet. Sie hat alle Formulare eingereicht, büffelt Deutsch und fragt, wie denn das Leben in Duisburg so sei? Und auch Rita, im vierten Jahr ihrer Dentistinnen-Ausbildung, studiert bereits die Seiten im Netz, auf denen Staaten um medizinisches Personal werben. Sie alle haben schon so viele ihrer christlichen Freunde weggehen sehen, dass auch sie es wagen wollen. Geschieht nichts, verliert Syrien, und damit auch die Welt, sein christliches Erbe.

 

„Ich lebe nicht länger für mich selbst, sondern für die anderen, und damit für Jesus, der in jedem von uns steckt.“

Frater Gery

Das verlorene Paradies

Noch aber geht es in Gerys Bus zu einem verlorenen Paradies: Al-Ard, die Erde. Vorbei an Armee-Checkpoints, weitet sich bald der Horizont. Frans van der Lugt, der als Märtyrer gestorbene Jesuit, hatte in den 1980er-Jahren ein riesiges Areal urbar gemacht und als Zentrum für interreligiösen Dialog etabliert. „Abuna Frans“, wie ihn auch Muslime als ihren „Vater“ verehrten, schuf dort für Menschen mit Behinderungen, die zuvor in Syriens Gesellschaft versteckt worden waren, ein Betätigungsfeld in der Landwirtschaft. Welchen Schmerz muss der Holländer empfunden haben, als Islamisten in seine Oase eindrangen und sie nach und nach zerstörten. Und doch ist es nicht vorbei. Erste Gebäude sind renoviert, Musik dröhnt heraus, es wird getanzt, gelacht und gesungen. Aus ganz Syrien sind mehr als hundert junge Leute gekommen. Nachdem Frater Gery im Jahr zuvor Syriens erstes Taizé-Treffen mit 800 Teilnehmern organisiert hatte, liegt der Stab nun bei ihnen. Sie sollen sich hier kennenlernen und vernetzen, beten und planen und bald eigene Treffen in ihren Städten auf die Beine stellen. Das zarte Pflänzchen der Hoffnung regt sich in Al-Ard kühn aus der kargen Erde. Und Duisburg, das ist in solchen Momenten ganz, ganz fern. ●

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