Unschuldig im Todestrakt

Wie aus dem Nichts wird ein Christ in Pakistan der Gotteslästerung beschuldigt. Das Gericht verurteilt ihn zum Tod am Strang. Die Geschichte eines Kampfes für Gerechtigkeit, der die allewelt an der Seite einer „Löwin“ bis ins Gefängnis führt.

Text: Christoph Lehermayr Fotos: Simon Kupferschmied
19 min Lesedauer

Jemand musste Ashfaq Masih verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Mittags verhaftet. Was beginnt wie bei Kafka, nimmt an einer staubigen Straßenkreuzung in Pakistans zweitgrößter Stadt Lahore seinen Anfang. Motorräder rauschen vorbei. Ein Gewirr an Stromleitungen baumelt zwischen unverputzten Ziegelbauten. Männer in Pluderhosen und weiten Hemden gehen im Viertel Bagrian ihren Geschäften nach. Frauen treten spärlich, und wenn, dann nur verhüllt in Erscheinung. In einem der Hausverschläge betreibt der Mechaniker Ashfaq Masih eine kleine Werkstatt. Er ist 34 Jahre alt und lebt gut vom Reparieren der Fahrräder und Mopeds. Am späten Vormittag, als er sich schon auf das Mittagessen mit seiner Frau und der kleinen Tochter freut, die nur ein paar Straßen weiter leben, kommt ein Kunde mit einem Motorrad ins Geschäft. Er bittet um das Austa-rieren des Vorderrades. Als Ashfaq nach getaner Arbeit den vereinbarten Preis verlangt, sagt der Kunde, er sei ein Anhänger von Peer Fakhir, eines in Pakistan bekannten Sufi-Asketen, und würde daher nicht bezahlen. „Ich habe auf meine Rechnung bestanden und gesagt, dass ich niemandem außer Jesus folge und mich daher nicht für den religiösen Status des Mannes interessiere“, wird sich Ashfaq später an seine Antwort erinnern.

Tumult und Handschellen

„An jenem Tag war ich in der Nähe, als plötzlich eine Gruppe von Männern zusammenlief“, berichtet Shokad, sein Bruder. „Sie haben geschrien und getobt und den armen Ashfaq aus seiner Werkstatt gezerrt. Ich war wie versteinert, wusste nicht recht, wie ihm geschieht, als sie ihn beschimpften und mit Fäusten malträtierten. Bis schließlich die Polizei kam. Ashfaq war doch stets ein ruhiger, friedliebender Mensch, hilfsbereit und besonnen.“

Der Bruder führt in einen kargen Raum, in dem der Verputz von den Wänden bröckelt. Auf einem Bett hockt eine Frau, ein buntes, mit Rosen bemaltes Tuch über den Körper gestreift. Es ist Nabila, Ashfaqs Ehefrau. Sie wird das erste Mal mit einem Journalisten über das Vorgefallene sprechen. Als sie damals erfuhr, dass die Polizei ihren Mann mitgenommen habe, lief sie zur Wache, wo sie ihn gerade verhörten. „Sie sagten, der Vorwurf laute auf Blasphemie. Da wusste ich, dass es sehr ernst ist und begann zu weinen. Ich ahnte, dass sie ihn wegsperren würden. Auf einer Polizeistation war ich zuvor noch nie und sie ließen mir nur fünf Minuten mit ihm. Als ich ihn in Handschellen sah, schluchzte ich so laut, dass sie mich maßregelten. Ashfaq war doch so ein guter Mann, immer sanft, nie ein lautes Wort. Unsere Angelina war da gerade einmal zwei Jahre alt. Sie musste alles mitansehen.“

Vom Schicksal, Christ zu sein

Was sich bis zu dieser Stelle anhört, wie ein außer Kontrolle geratenes Geplänkel zwischen einem Mechaniker und seinem Kunden, welches sich rasch lösen ließe, wird ausarten zu einem Drama um Leben oder Tod. Denn das ist nicht Europa, das ist die Islamische Republik Pakistan. Ashfaq war Christ und der, der ihn der Gotteslästerung bezichtigte, Moslem.

„Esai, so nennen sie uns“, sagt Shokad, der Bruder. „In unserer Sprache Urdu steht das eigentlich für Jesus, und doch ist es zugleich die schlimmstmögliche Beschimpfung.“ Die drei Millionen Christinnen und Christen bilden gerade einmal zwei Prozent der Bevölkerung des Landes. Der muslimischen Mehrheit gelten sie als „Ungläubige“, als „schmutzig“ und „unrein“, als die, die ihren Müll wegkarren und in den Kloaken der Kanäle zu schuften haben. Diskriminiert und drangsaliert, lässt es sich ausmalen, weshalb Ashfaqs Ehefrau eine böse Vorahnung überkam, als sie ihren Mann in Handschellen sah. Der nächste Ort, an dem sie ihn wiedersehen sollte, würde nicht mehr die Polizeistation, sondern bereits die Strafkolonie sein.

„Er saß dort in einer winzigen Zelle mit sieben anderen Männern und war noch zuversichtlich“, schildert sie, ‚ich habe weder den Propheten beleidigt noch sonst etwas Unrechtes getan‘, sagte er. Doch …“, und nun beginnt sie zu weinen und wischt sich mit dem Tuch voll blühender Rosen die Tränen aus dem Gesicht, „… ihm wurde auch klar, dass es ein abgekartetes Spiel war, eine Falle, in die er geraten ist.“ Genaueres wusste Nabila nicht, nur dass Ashfaq daheim von einem Mann gesprochen hatte, der ihm Probleme bereite.

Tödliche Blasphemiegesetze

Wie so oft in Pakistan geschah dann lange nichts. Ashfaq saß in Lahore ein und niemand wusste, wie lange es bis zu einem Prozess dauern würde. Anhörungen fanden keine statt. Waren welche angesetzt, wurden sie vertagt und später abgesagt. Seine Frau durfte ihn einmal im Monat für 15 Minuten sehen. Nur seine Anklage stand bereits am Tag seiner Verhaftung fest: Paragraf 295 C des pakistanischen Strafgesetzbuches – Verunglimpfung des Heiligen Propheten. Darin heißt es: „Wer in Worten, schriftlich oder mündlich, oder durch sichtbare Übung, oder durch Beschuldigungen, Andeutungen oder Beleidigungen jeder Art, unmittelbar oder mittelbar den geheiligten Namen des Propheten Mohammed verunglimpft, wird mit dem Tode oder mit lebenslänglicher Freiheitsstrafe und mit Geldstrafe bestraft.“ Auf Basis dieses und weiterer wohl bewusst schwammig formulierter Gesetze, die erst im Zuge der stetigen Islamisierung der pakistanischen Gesellschaft ab den 1980er-Jahren ihre volle Wirkung entfalteten, wurden seither fast 1.500 Menschen angeklagt. 89 von ihnen lynchten aufgebrachte islamistische Mobs, noch bevor es überhaupt zum Prozess kam.

Ashfaq Masihs Urteil sollte am 4. Juli 2022 fallen. Fast fünf Jahre nach seiner Verhaftung. Vor Gericht erhielt er erstmals die Chance, seine Sicht zu präsentieren. Er schilderte, dass die Vorwürfe „unbegründet, falsch und unseriös“ seien. Die Ursache sei die Rivalität mit seinem Geschäftsnachbarn. Dieser betrieb gleich nebenan ebenfalls eine Reparaturwerkstatt für Motorräder, war damit aber weit weniger erfolgreich als Ashfaq, weshalb er ihn zur Auf-gabe seines Geschäfts aufforderte. „Weil ich mehr Kunden hatte, war er eifersüchtig. Als ich meine Werkstatt nicht abtrat, drohte er mir noch am Abend vor dem Vorfall böse Folgen an.“ Der vermeintliche Kunde, so zeigte sich, war ein von seinem Rivalen gesandter Lockvogel. Sofort, nachdem die angeblich gotteslästernde Aussage gefallen war, rannte dieser hinüber in dessen Geschäft. Gemeinsam kehrten sie zurück, schrien und tobten und warfen Ashfaq Blasphemie vor, woraufhin sich schnell eine Menge Aufgebrachter zusammenfand und ihn traktierte. Am Ende seines Statements wandte sich der Angeklagte direkt an seinen Richter: „Ich bin unschuldig. Ich habe weder ein abwertendes Wort gegen den Propheten Mohammed geäußert, noch würde ich daran denken, dergleichen zu tun. Ich respektiere den Propheten Mohammed aus tiefstem Herzen.“

Eine Scharade vor Gericht

Vergeblich. Der Richter spricht in seinem Urteil von „überzeugenden und vertrauenerweckenden Beweisen.“ Ashfaqs Schuld sei für ihn, „ohne den Schatten eines Zweifels“, erwiesen und zu vollstrecken „durch den Tod durch Hängen.“ Eine Scharade ärgsten Ausmaßes, eines jeden Rechtsstaates unwürdig, basierend einzig auf den abgesprochenen Aussagen zweier Vertrauter, ohne sonstige Zeugen, ohne auch nur einen weiteren Beweis. Ashfaq Masih wird in Ketten gelegt abgeführt.

Viele Monate später gleitet ein Wagen auf einer Landstraße in Richtung Süden. Es ist früher Morgen. Im gleißenden Licht des Sonnenaufgangs schimmern die Kuppeln der großen Mogulmoschee von Lahore.

Als die Millionenstadt langsam ausfranst, draußen Karren, Lastwägen und Eselsgespanne am Fenster vorbeiziehen und das Grün der fruchtbaren Region Pandschab seine Pracht entfaltet, stöbert eine Frau im Fonds des Fahrzeugs in ihren Akten. Sie heißt Katherine Sapna, ist Juristin, Menschenrechtsaktivistin, Christin und eine der wohl mutigsten Frauen Pakis-tans. Sie war beim Gespräch mit Ashfaqs Ehefrau Nabila dabei, hat sie getröstet, die Arme um ihre Schultern gelegt, ihr gut zugesprochen. Später spielte sie draußen vor dem Haus von Nabilas Eltern, in das Ashfaqs mittellose Frau nach dessen Verhaftung zurückziehen musste, mit Angelina. Die Tochter des Paares ist inzwischen acht Jahre alt. „Ich vermisse meinen Papa so sehr“, hat sie gesagt. Sie malt Bilder und schickt sie ihm ins Gefängnis. Oder manchmal auch nur eine Karte, auf der steht: „Ich liebe dich!“

Im Bann der Islamisten

Auch heute geht es in dieses Gefängnis, hinunter in die Stadt Sahiwal, gute fünf Autostunden von Lahore entfernt. Dorthin ist Ashfaq verlegt worden, ein Hochsicherheitsgefängnis, Todestrakt inklusive. Für Nabila ist die weite Fahrt kaum leistbar. Erst wenige Male war sie mit der Kleinen dort und saß dann, durch ein Fenster getrennt, vor ihm, ohne Gelegenheit, auch nur seine Hand zu berühren. Katherine Sapna hat viele solche Blasphemieopfer begleitet und jedes von ihnen hat ihr die zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit dieser Gesetze vor Augen geführt. Bewusst vage und doppeldeutig formuliert, bieten sie die ideale Grundlage, die bereits am untersten Ende der Gesellschaft stehende Minderheit der Christen einzuschüchtern. Als Pakistans erster katholischer Minister im Jahr 2011 eine Reform einforderte, erschossen ihn Islamisten auf offener Straße. Seither ist jede Diskussion tabu. Islamistische Scharfmacher bestimmen die Debatte, rotten sich zusammen und üben nicht selten Lynchjustiz. In erster Instanz hagelt es daher fast immer Schuldsprüche, da selbst die Richter den Mob fürchten. Vollstreckt wurde ein Todesurteil bislang nicht, doch die Verurteilten bleiben so über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinter Gittern, bevor ein Höchstgericht sich ihrer Fälle annimmt.

Selbst mittellos und arm, brauchen gerade die Christen jemanden, der sie nicht vergisst, sich für sie einsetzt, ja für sie kämpft. So wurde aus Katherine Sapna die „Löwin von Lahore“, wie sie die allewelt nannte. Eine Frau, die mit ihrem Team von Juristen der Gefahr trotzt, oft nachts aufbricht, wenn wieder einmal in einem entlegenen Dorf der Mob Jagd auf Christen macht, deren Mädchen schändet, Kirchen in Brand setzt und das Leben der Menschen zur Hölle macht.

In der Todeszelle

Wie durch den Bauch eines Tieres führt der Weg in die Eingeweide des Gefängnisses. Gebaut noch von den Briten, wurde es zuletzt um hohe Türme und Baracken aus Beton für die Todgeweihten erweitert. Endstation ist das im dunklen Kolonialholz gehaltene Büro des Direktors. „Leider“, sagt er der verblüfften Katherine Sapna, der lang vereinbarte Besuch bei Ashfaq Masih müsse ausfallen, „Sie wissen schon, interne Revision und so.“ Wochen später sitzt sie dem Verurteilten dennoch gegenüber. Er berichtet von seiner Zelle, kahl und karg, die er mit drei weiteren Christen mit dem gleichen Schicksal teilt. Gemeinsam würden sie im Stillen beten, denn Gott, das wisse Ashfaq, habe ihn nie verlassen. Bett besitze er keines, er schlafe auf dem blanken Boden und erspähe mit etwas Glück, wenn er aus dem einzigen Fenster blickt, eine Katze, die an seiner Zelle vorbeihuscht. Katherine überreicht ihm das Bild, das seine Tochter Angelina für ihn gemalt hat. Es zeigt ein Haus, davor sie, die Kleine, die die Hand der Mama hält, die wiederum nach der des Vaters greift. Dessen Gesicht hat sie durchgestrichen, nur den Oberkörper gemalt, dann aufgehört. Ein Mann im Verschwinden.

Aber Katherine Sapna kämpft für ihn. Unablässig. Vor den Gerichten. Zugleich unterstützt sie die Familie, sorgt dafür, dass Angelina zur Schule gehen kann. Und er, Ashfaq, richtet seine Botschaft direkt an uns: „Ich bin nicht ohne Hoffnung und bitte um euer Gebet für mich. Ich bin unschuldig und glaube das, was unser Herr spricht:

„Wenn ihr in meinem Wort bleibt, seid ihr wirklich meine Jünger. Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch befreien.“ (Johannes 8, 31-32)

Pakistans Todesgesetze

Auf die Beleidigung des Propheten und des Koran steht in Pakistan die Todesstrafe. Auf Druck der Islamisten werden vermeintliche Gotteslästerer nun auch als Terroristen angeklagt. Gerade der diskriminierten christlichen Minderheit fehlen Bildung und finanzielle Mittel, um sich juristisch vor Anklagen zu schützen. Diese werden oft dazu genützt, sich unliebsamer Personen bei Streit um Besitz oder persönlichen Konflikten zu entledigen. Aktuell befinden sich allein in der Region Pand-schab 552 Menschen auf Basis der Blasphemiegesetze in Haft. In den vergangenen drei Jahrzehnten wurden 71 Männer und 18 Frauen noch vor ihrem Prozess von Islamisten ermordet. Laut der Stiftung Open Doors ist Pakistan das siebtgefährlichste Land der Welt für Christinnen und Christen.

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