Träume am Amazonas
Reportage zum Anhören: Träume am Amazonas
Blitz und Donner wecken die Metropole. Der heftige Regen wäscht den Schmutz von ihren Straßen. Kurz kaschiert er den Verfall der feinen Villen aus der Zeit der Kautschuk-Barone. Einst Symbol für Reichtum und Raubbau, heute ein Beleg der Vergänglichkeit. In Sturzbächen schießt das Wasser hinab zum Hafen, wo die Nacht noch so schwarz ist wie der Rio Negro. Fette Tropfen prasseln auf das Deck. Der Motor röhrt. Am Kai hieven Fischer ihren frühen Fang von den Booten. Manaus, die große Stadt mitten in Amazonien, erwacht. Die Taue werden gelöst und bald verschwinden die Hochhäuser am Horizont in der Gischt des wirbelnden Wassers. Als es hell wird, ergießt sich der Rio Negro in den sandfarbenen Rio Solimões und fließt als vereinter Amazonas noch weitere 20 Kilometer zweifarbig. Das Schnellboot biegt ab. Es geht westwärts, den längsten und mächtigsten Strom der Erde hoch. Das Boot stemmt sich trotzig gegen den Strom, der dreißig Mal mehr Wasser führt als die Donau, mit Tiefen von bis zu 120 Metern, bevölkert von 3.000 Fischarten, manche gar 100 Kilo schwer. Am Ufer erheben sich Holzhütten auf Stelzen und gelegentlich kleine Kirchen. Und dann wieder das nicht endende Grün des größten Regenwaldes der Erde in all seinen Schattierungen. Dazwischen nur der Strom, der Inseln formt, aus dem Delphine hervorhüpfen und den zig Flüsse speisen. Samuel Fritz, ein Jesuit aus Böhmen, war der Erste, der im 17. Jahrhundert den Amazonas kartographierte. Zu einem Missionar aus Europa geht die Fahrt auch heute. Doch der ist Bischof und steht vor Herausforderungen der ganz anderen Art.
Coari, Fluss der Götter
Neun Stunden später. Sein Händedruck ist kräftig, die Miene freudig, die Umarmung innig. Nur selten verschlägt es Fremde ins Herz von Amazonien. Straße gibt es keine, einzig ein Flieger oder der Fluss führen zu Dom Marcos nach Coari. Die Stadt liegt 400 Kilometer westlich von Manaus. Fluss der Götter bedeutet ihr Name in der Sprache der Indigenen und sie ist mit 100.000 Menschen die größte weit und breit. Vorbei an einer Miniatur der berühmten Christ-Erlöser-Statue aus Rio de Janeiro, geht es hoch ins bescheidene Haus des Bischofs. Der hieß in seinem ersten Leben Marek Marian Piatek, stammt aus Polen, ist Redemptorist und nach 35 Jahren Brasilien längst „inkulturiert“, wie es Schriften im Vatikan wohl nennen würden.
Dom Marcos’ oberster Chef, Papst Franziskus, widmete Amazonien ein ganzes apostolisches Schreiben. Träume sind es, die er darin formuliert für eine Region, die einzigartig ist und in der es die Kirche schwer hat. Die „christlichen Gemeinschaften“ sollen „Fleisch und Blut annehmen“, so sein Wunsch, und „der Kirche neue Gesichter mit amazonischen Zügen schenken.“ Indigener Federschmuck auf dem Regal, ein Fischernetz neben der Gottesmutter, dazu ein bunter, zum Sprechen geneigter Papagei im Hof. Der Heilige Vater hätte wohl keine Einwände gegen seinen örtlichen Hirten hier. Dieser erweist sich als energetisch aufgeladener Geistlicher, der fernab größerer Zivilisation rasch seinen Rang vergessen lässt. „Morgen“, sagt er vor dem Zubettgehen, „erlebt ihr, wie es ist, eine Herde am Amazonas zu haben.“
Sonntags auf der „Catedral“
Sie ist 16 Meter lang, 3,8 Meter breit, komplett aus Holz, hat einen 250-PS-Motor an Bord und 40 Jahre auf dem Buckel. So pompös ihr Name, so bescheiden ist ihre Wirklichkeit. Die „Catedral“ einen Amazonas-Kreuzer zu nennen, käme einer schändlichen Übertreibung gleich. Und doch ist sie des Bischofs stattlichstes Schiff. Ohne sie wäre er ein Hirte ohne Hinterland. Denn die Ausmaße seiner 2013 gegründeten Diözese sind gewaltig. Mit 117.000 Quadratkilometern größer als ganz Österreich, schlängelt sie sich hunderte Kilometer entlang
des Rio Solimões. Dom Marcos breitet eine Karte aus. Sie zeigt die Verästelungen des Flusses hinunter bis Manaus und hoch in Richtung der Grenze zu Peru. Entlang des Stroms reihen sich schwarze Punkte auf. „Jeder davon steht für eine einzelne Gemeinde“, sagt der Bischof, „und genau das ist die Herausforderung. Insgesamt sind es über 500. Doch ich habe in meiner Diözese nur 19 Priester!“
So wird die „Catedral“ zum Missionsschiff. Die quirlige Ordensschwester Solange ist immer mit von der Partie, wenn sie ausläuft, dazu zwei Steuermänner, zwei Priester und ein Katechist. Gemeinsam schippern sie auf dem Amazonas und legen untertags in bis zu vier Dörfern an. Dort halten sie die Messe, feiern Taufen und Hochzeiten, nehmen die Beichte ab und kehren abends zum Schlafen zurück aufs Boot. Die Taktung ist dicht, doch das Boot langsam, sodass ein halbes Jahr vergeht, bevor die Kirchen-Crew ins selbe Dorf zurückkehrt. Dazwischen liefert ihnen der Amazonas all seine Extreme – vom Sturm bis zum tosenden Gewitter, dazu Hochwasser und alles abseits eines Radars. „Einmal überfielen uns Flusspiraten“, erzählt Solange und lacht dabei: „Wir mussten sie enttäuschen, denn wir haben nichts Wertvolles dabei. Außer natürlich unseren Glauben und den dafür reichlich.“
Ist der Bischof mit an Bord, kommt das einer Sensation gleich. Kinder winken, Erwachsene laufen zusammen, als Dom Marcos in eine wackelige Zille wechselt, um ans Ufer zu gelangen. Vila Boa Vista ist erreicht: saftigstes Gras, 32 Häuser auf Holzstelen direkt am Fluss, 140 Seelen und eine gemauerte Kirche, geweiht „Unserer Lieben Frau auf dem Berge Karmel“. Hinter dem Altar flattern neben einer Friedenstaube auch Papageien und Kakadus zum Gekreuzigten. In der Predigt geht es um die guten Hirten in der heutigen Zeit und die Frage, ob sie wirklich für ihre Schafe da sind. Es wird gesungen, getanzt, geklatscht und gefeiert, dass solch hoher Besuch das Dorf beehrt.
Glückliche und Gaukler
Man muss sich Sidney Santos da Silva als glücklichen Mann vorstellen. In der Messe war er einer, der am lautesten mitsang. Als er nun zu seinem Holzhaus auf Stelzen führt, berichtet
er stolz, es selbst gebaut zu haben. Mit seiner Frau und sechs Kindern lebt er mit und am Fluss. Ihm gilt sein erster und letzter Blick des Tages. „Uns fehlt es hier an nichts. Rund um das Haus baue ich Maniok an, für alles andere hätte der Boden hier zu wenig Nährstoffe. Daraus mache ich Kuchen und alle paar Tage fahre ich mit dem Boot vor Ort in Brasilien nach Coari, wo ich ihn verkaufe. Als Lula erstmals Präsident war, erhielt unser Dorf auch Strom. Sonst leben wir von dem, was uns die Schöpfung schenkt.“
Zurück in Coari, sitzt Dom Marcos abends beim Tisch. Noch immer ist es drückend schwül. Nach der Rückkehr mit der „Catedral“ hat er in der Hauptkirche die Abendmesse zelebriert.
Wie seit 1978 endete sie mit einem Gebet für mehr Berufungen. „Ich bräuchte eigentlich 50 Priester“, sagt der Bischof, während er Wein einschenkt, „allein hier in der Stadt habe ich 20 Kirchen, aber nur 3 Pfarrer. Und dann all die Flussgemeinden, in denen zusammengerechnet
an die 200.000 Leute leben. Die „Catedral“ ist alt und behäbig, die Reparaturen sind teuer und alle drei Jahre muss das morsche Holz ausgetauscht werden. Bei den anderen Booten ist es kaum besser.“
Dabei tobt in Brasilien, dem 214 Millionen Einwohner-Land mit den meisten Katholiken weltweit, längst ein Kampf um die Gläubigen. Vor 30 Jahren waren noch 90 Prozent der Menschen katholisch, heute sind es knapp über 50. Evangelikale Gruppen, die mit ihren Heilsversprechen ganze Stadien füllen und unter Ex-Präsident Jair Bolsonaro politische
Unterstützung genossen, haben mittlerweile komplette Medienimperien unter ihrer Kontrolle. „Werde mit uns reich“, lautet die Verheißung der mitreißenden Prediger mit teils bescheidenem Bibelwissen, dafür aber eigenem Schwarzgeldkonto in der Karibik. Doch die Freikirchen sind häufig dort, wohin die Amtskirche längst nicht mehr gelangt. „Zurecht fragen deren Prediger dann unsere Leute: Und, wann war dein Priester zuletzt bei dir?“, sagt Dom Marcos. Er zeigt die akribisch errechneten Zeitpläne, mit denen er seinem Mangel trotzt
und schildert seufzend seinen Traum: „Wäre die „Catedral“ nur schneller oder hätte ich ein moderneres Schiff, dann könnten wir mehr Gemeinden ansteuern und alles würde leichter.“
Ein Katechist fern der Zivilisation
Der nächste Tag. Eine Landzunge inmitten einer Lagune. Fünf Stunden Fahrt mit der „Catedral“ oder 45 Minuten mit einem Schnellboot von Coari entfernt. Dann glasklar glitzerndes Wasser im Sonnenschein, dahinter der beginnende Regenwald. Dort, wo Messias Rodrigues mit seiner Frau Simone und der kleinen Tochter Maria Eduarda lebt, werden Aussteigerträume wahr – die zugleich hart an der Realität zerschellen würden. „Einmal“, erzählt Messias, „hat mich eine riesige Schlange, wohl eine Surucucu, gebissen.“ So lautet hier
der Name für die längste Viper der Welt, die auch den Einheimischen Respekt einflößt. „Zur Heilung kochten wir Tee aus dem Zahnfleischfett eines Alligators. Aber es dauerte 80 Tage, bis ich gesund wurde.“
Und trotzdem, Messias könnte sich kein besseres Leben vorstellen, findet er hier doch alles, was er braucht. Er fischt, baut Maniok und Bananen an. Fixer Strom fehlt, nur ein Generator und Solarpanels liefern etwas Energie. „Aus der Stadt hole ich ab und an Kaffee, Zucker und Werkzeug, mehr nicht.“ Als Nachbarn hat er nur seine Eltern, die ein Stück weiter in einer Hütte leben, in der schon Messias aufwuchs. Als Dom Marcos sie betritt, bekreuzigt sich Vater Raimundo und bittet den Bischof um ein Gebet. „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, spricht unser Herr“, sagt Raimundo später, „Johannes 14,6 – wir sollen das nicht nur glauben, sondern es auch leben.“ Dom Marcos nickt und muss zugleich schmunzeln. „Da erkennt man gleich den Katechisten! Einige meiner Seminaristen tun sich mit den Bibelstellen schwerer, aber er, er kennt sie alle!“ Raimundo betreut die kleine Kirche Santa Luzia. Sie liegt an der Anlegestelle für Boote, zu der an Sonntagen alle aus dem Umkreis pilgern. Eine Messe mit Priester gibt es wie an so vielen abgelegenen Orten nur zweimal im Jahr. Sonst ist es Raimundo, der mit der Gemeinde das Wort Gottes feiert. „Ohne unsere Katechistinnen und Katechisten gäbe es uns als Kirche am Amazonas kaum mehr“, sagt der Bischof, „wir haben an die 800 von ihnen in der Diözese. Auch sie sind das Salz der Erde hier.“ Nun ist es Raimundo, der schmunzelt und sagt: „Matthäus 5, 13“ In seiner „Querida Amazonia“ würdigt der Papst den Einsatz der Laien, da nur dank ihnen „eine Präsenz in der Fläche“ zu erreichen sei. Aber gerade auch sie „brauchen die Feier der Eucharistie, denn diese ‚baut die Kirche‘.“ Franziskus verlangt daher nach einem Weg, „wie dieser priesterliche Dienst in Amazonien zu gewährleisten ist.“
Abflug und Blick in den Abgrund
Als sich der Flieger über Manaus erhebt und in Richtung Süden steuert, gleitet der Blick hinunter auf das Wunder, welches sich entfaltet. Ein grünes Meer an Wäldern, durchzogen
von Flüssen, die sich wie Arterien verästeln, unfassbar in ihrer Vielfalt. Bis plötzlich der Blick bricht. Kahle Erde, braun und ganz klar aus tausenden Metern Höhe erkennbar. Wie Kuchenstücke, herausgeschnitten aus dem Regenwald. Sind Abholzung in der Diözese Coari wegen der dortigen natürlichen Hochwasser kaum ein Thema, werden sie anderswo aus der Luft zum erschreckenden Anblick. Ein Fünftel von Amazonien hat der Mensch bereits vernichtet. Jede Sekunde fallen statistisch 18 weitere Urwaldriesen. Allein 2021 umfasste die gerodete Fläche zweimal die von Österreich. „Oftmals“, klagt Papst Franziskus in seinem Schreiben, „lassen wir unser Gewissen abstumpfen, denn die ständige Ablenkung nimmt uns den Mut, der Wirklichkeit einer begrenzten und vergänglichen Welt ins Auge zu schauen.“
„Das geliebte Amazonien steht vor der Welt mit all seiner Pracht, seiner Tragik und seinem Geheimnis.“
Nachtrag, etliche Monate später
Eine E-Mail aus Brasilien trifft ein. Ihr angehängt sind Bilder aus einer Werft in Manaus. Sie zeigen den Bau eines Bootes aus Aluminium. Dazu freudige Zeilen von Dom Marcos, der ganz beglückt ist. Bald soll es fertig sein: Sein neues, modernes Boot. Das heißt künftig mehr Ausfahrten, mehr Messen, eine Perspektive. Ermöglicht wird das alles von einer großzügigen Spenderin, die sich an Missio Österreich wandte und den Schiffsbau finanziert. Und plötzlich ist das, was zuvor nur wie ein Traum schien, wahr geworden. ●