Saims neues Leben

Das Foto eines fünfjährigen Buben zierte 2021 das allewelt-Cover: Es war Saim, ein moderner Sklave in den Ziegelfabriken Pakistans. Seine Geschichte der Ausbeutung erschütterte. Zwei Jahre später suchten wir ihn und erzählen, welch unglaubliche Wende sein Leben nahm.

Text: Christoph Lehermayr Fotos: Simon Kupferschmied / Jasher Wilson
20 min Lesedauer

Ein Vor- und Rückgriff sind nötig, um diese Geschichte erzählen zu können. Wir blicken auf den Februar des Jahres 2021. Die Welt in einer Würgespirale aus Ausgangssperren, Lockdowns und Einreiseverboten. Wir von Missio Österreich sollten dabei eigentlich längst in Pakistan sein. Wie jedes Jahr wählten wir
ein Schwerpunktland, das zeigt, warum es Hilfe braucht, und was Spenden bewirken. Die Entscheidung für Pakistan fiel leicht, denn kaum woanders auf der Welt ist das Dasein der christlichen Minderheit derart bitter.

In den Ziegelhöllen

Die Geschwister im Glauben gelten in ihrem eigenen Land als Bürgerinnen und Bürger zweiter, ja wenn nicht gar dritter Klasse. Sie werden ausgebeutet, drangsaliert und diskriminiert. Anstatt dazu aber vor Ort recherchieren zu können, saßen wir in Österreich fest. An eine Reise nach Pakistan war wegen Corona nicht zu denken. Der allewelt fehlten Reportagen und auch die Missio-Kampagnenchefin wirkte aufgeregt, weil sie dringend Bilder für die Plakate zum Weltmissions-Sonntag im Oktober brauchte.
Und dann kamen diese Bilder – und sie ließen einen fassungslos zurück. Es sind Aufnahmen von fast schon archaischem Ausmaß. Sie dokumentieren die Arbeit in einer Ziegelfabrik in der Region Pandschab. Gemacht hat sie der von Missio beauftragte pakistanische Fotograf Jasher Wilson. Bei der Durchsicht seiner Bilder stach ein Bub ins Auge. Zu sehen ist, wie er mit seinen kleinen Händen half, feuchten Lehm in Metallformen zu pressen, aus dem Ziegel wurden. Auf anderen Fotos sah man, wie er die Steine zum Trocknen in der Sonne umdrehte. Ein Kind als Schwerarbeiter: struppiges, schwarzes Haar, dazu ein mitunter trauriger und zugleich durchdringender Blick. Wer war dieser Bub, und was ist seine Geschichte?

Als Sklave geboren

So viel Bilder der Fotograf auch sandte, so sehr schmerzte es, nicht selbst vor Ort sein zu können. Gespräche mit den Missio-Partnern von der Caritas in der Stadt Multan sollten zumindest eine Annäherung liefern. In stundenlangen Video-Schaltungen gaben sie Einblick in Unvorstellbares. Sie berichteten von Kindern, geboren als Sklaven. Von Eltern, gehalten als Leibeigene. Und von einem System der Ausbeutung, aus dem es kaum ein Entrinnen gab. Auf Nachfrage berichteten sie auch von dem Buben, der bald das Cover der allewelt zieren würde. Er heißt Saim, war fünf Jahre alt, hat vier Geschwister und sein Schicksal schien typisch für das von so vielen. Hunger und der pure Wille zu überleben, hatten Bhatti, Saims Vater, in die Ziegelei geführt. Wie fast alle dort, ist er Christ und das allein ist in Pakistan schon ein Stigma. An Arbeit bleibt ihnen nur, wofür sich die muslimische Mehrheit zu gut ist. Etwa in den Ziegeleien, wo sie von frühmorgens an schuften und gleich nebenan in Baracken hausen. Dort fehlte es an Wasser, Duschen und Toiletten. Ihre Notdurft mussten die Menschen auf den umliegenden Feldern verrichten und aus Tümpeln trinken. Bereits Kinder werden wie Saim in dieses System der Leibeigenschaft hineingeboren, da der Boss der Ziegelei als Einziger Geld leiht und dafür horrende Zinsen verlangt, die die Menschen über ihren Tod hinaus an ihn binden. An Schule war für Saim und seine Geschwister nicht zu denken. Die einzige staatliche ist weit weg. Zudem brauchten die Eltern ihre Kinder als Arbeitskräfte, da sie sonst die hohe Zahl an Ziegeln, die ihnen der Chef als Limit vorgibt, niemals schaffen würden. „In unsichtbaren Ketten“, lautete der Titel der Reportage damals in der allewelt. Und Saims Schicksal ließ den Autor dieser Zeilen seither nicht mehr los.

Erstmals in Pakistan

Fast zwei Jahre vergehen. Endlich wird eine Reise nach Pakistan möglich. Sie führt nach Multan, eine Millionenstadt im Herzen des Pandschab. Ein Gewirr von Straßen mit Motorrädern, die links und rechts vorbeirauschen und Tuk-Tuks, die sich dazwischen durchschlängeln. Bald verlässt der Wagen die Hauptstraße. Durch enge, erdige Gassen geht es ins Chak 133, den Wohnort der Ziegelarbeiter. Schwarzer Rauch quillt aus einem hohen, einsam stehenden Schlot. Rundherum sind die Häuschen aus Lehm, in denen Saim und die Seinen leben. Es ist Mittag. Jetzt im Winter hat es angenehme 24 Grad, im Sommer hingegen werden daraus unbarmherzige 45 und mehr.

Menschen strömen herbei. Manche von ihnen wirken sonderbar vertraut. Ihre Gesichter tauchten damals in der Reportage auf. In der Kolonie der Ziegelarbeiter leben ausschließlich christliche Familien. Bis auf den Sonntag gleichen ihre Tage einander: Zeitig am Morgen, noch bevor die bald sengende Sonne aufgeht, beginnt die Plagerei. Die Männer schöpfen Lehm aus den Tümpeln, verfrachten ihn mit Schaufeln auf Scheibtruhen aus Holz und karren ihn auf den staubigen Platz vor den Hütten. Solang der Lehm feucht ist, formen Frauen und Kinder daraus Klumpen und klatschen sie in die metallenen Formen, aus denen die Ziegel entstehen. Es ist eine monotone, müde machende und beschwerliche Arbeit. Immer hockend, bis der Rücken schmerzt, bis jedes Gelenk wehtut, bis man seine Arme nicht mehr spürt, bis der Abend endlich kommt.

Prince Alven ist ein ruhiger, kundiger Mann, der oft ins Chak 133 fährt. „Wer diesen Ort nicht kennt, dem fällt die Veränderung vielleicht nicht auf“, sagt er und führt zu einem Gestänge aus Metall. Er pumpt und kurz darauf sprudelt kühles Wasser heraus. „Wir ließen diesen Brunnen graben, damit die Menschen nicht mehr aus dem Tümpel trinken müssen, aus dem sie auch den Lehm schöpften und so ständig krank wurden“, sagt der Mitarbeiter der Caritas.

Wo ist Saim?

Der Plan des Missio-Partners reicht über Jahre und soll das Leben der Menschen nachhaltig verbessern. „Das Problem der Ausbeutung ist zu groß, als dass es hier einfache Antworten gäbe. Die Menschen sind gezwungen, weiter hier zu arbeiten, um überhaupt ein Auskommen zu finden und nicht zu verhungern. Aber wir können alles daransetzen, die Bedingungen zu verbessern, unter denen sie das tun.“ Er spricht von Toiletten und Duschen, die bald installiert werden, so wie es die Caritas bereits in anderen Ziegelkolonien tat. Und selbst der Malik, der Boss, der nebenan gemütlich im Schatten auf einer Liege fläzt, hat all dem zugestimmt. Er ist Muslim, hat die Zie-gelei von seinem Vater geerbt und sieht in der Leibeigenschaft seiner Arbeiter kein Problem. Überwachen braucht er die Menschen nicht, denn aus dem System der Schuldknechtschaft gibt es ohnedies auch so kaum ein Entkommen. Im beißenden Rauch der Ziegelbrennerei, die gleich neben den Lehmhütten der Arbeiter steht, wird dabei eine Frage immer drängender: Wo ist eigentlich Saim? „Der?“, antworten die Leute, „der ist nicht mehr hier. Weder der Bub, noch seine Familie. Deren Hütte ist leer.“

Alles ist anders

Der nächste Morgen. Eigentlich ist es noch fast Nacht. Die Uhr zeigt halb fünf. Ayesha, Saims Mutter, macht Feuer. Bahti, der Vater, betet. Und Arooj, die große Schwester, schaut, dass ihre Geschwister aus dem Bett kommen, in dem sie alle gemeinsam geschlafen haben. Gewisse Gewohnheiten, zu denen das frühe Aufstehen zählt, sind geblieben, auch wenn draußen keine Ziegelei mehr auf die Familie wartet.

Das Schöne am Journalismus ist, dass er oft unvorhersehbar ist. Klar, jede Reise braucht ihren Plan. Aber die Realität korrigiert diesen mitunter. Journalismus, der zum Himmel schreiendes Leid wie jenes der Ziegelsklaven beleuchtet, soll und kann im besten aller Fälle etwas bewegen. Nichts wäre schlimmer als ein gleichgültiges Schulterzucken. Als die allewelt mit Saim auf dem Cover erschien und der Bub auch auf den Plakaten zum Weltmissions-Sonntag in allen Pfarren Österreichs zu sehen war, spendeten Menschen in der Hoffnung, damit das Leid in den Ziegeleien zu lindern. Das geschieht nun, wie Prince Alven und seine Kollegen von der Caritas zeigten. Was sich seither jedoch im Leben von Saim und seiner Familie veränderte, hätten selbst sie nicht für möglich gehalten.

Und da kommt er. Sein Haar ist nun kürzer geschnitten, dafür ist er gewachsen, grinst und reicht schüchtern die Hand zum Gruß, nur um gleich wieder wegzusausen. Später kehrt er zurück und inspiziert sorgsam das mitgebrachte Magazin mit ihm auf dem Cover. „Shukria“, sagt er, dankeschön, und flitzt wieder davon. Arooj, seine 13 Jahre alte Schwester schmunzelt, „er ist lieb – und wild“, sagt sie und lacht. Am Vormittag kümmert sie sich um ihre Geschwister, während die Mutter als Haushaltshilfe in der Stadt arbeitet.

Bei Saims Lehrerin

Stunden später in einer Klasse voller Kinder. Mädchen wie Buben, manche noch ganz klein, andere fast schon Teenager. Als die Lehrerin, eine junge, energische Frau mit langem Haar, das Wort ergreift, lauschen sie alle, holen die Unterlagen hervor und beginnen Sätze auf Urdu, der Landessprache, nachzusprechen. Es sind die Kinder der Ziegelsklaven, die hier erstmals im Leben Unterricht erhalten: Am Nachmittag, informell und organisiert von der Caritas. „Sie sind so neugierig und wissbegierig“, erzählt Malka Vincent, ihre Lehrerin. „Ich lege Wert darauf, ihnen auch Manieren beizubringen sowie Grundlagen der Hygiene, Hände waschen, Körperpflege, all das war ihnen zuvor völlig fremd.“ Je länger sie spricht, desto mehr merkt man, wie die 29-Jährige in ihrer Aufgabe aufgeht: „Vormittags unterrichte ich Kinder in einer offiziellen Schule, nachmittags dann die aus den Ziegeleien – und die entwickeln sich rasend schnell. Das motiviert mich, an ihrer Seite zu sein und sie in eine gute Zukunft zu führen.“

Schließlich schaut sie auf Saim, zeigt seine Hausübungen und beobachtet, wie er die Ohren spitzt, als sie über ihn spricht. „Er hat mir einmal ganz stolz davon erzählt, dass er in Europa in einer Zeitung war“, sagt sie, „aber ich wusste nicht ganz, was ich davon halten sollte. Er ist ein schlauer Bub und ein kleiner Schlingel“, sagt sie und schmunzelt. Das Schuften in den Ziegeleien hat den Kindern zugesetzt, ihre Seelen verhärtet und ihnen viel vom Grundvertrauen genommen, mit dem sie zur Welt kamen. „Aber dank der Bildung wird ihr Leben nicht das ihrer Eltern werden, das weiß ich“, sagt Malka Vincent und strahlt über das ganze Gesicht.

 

„Dank der Bildung wird das Leben der Kinder nicht das ihrer Eltern werden. Das weiß ich.“

Malka Vincent, Saims Lehrerin

Das Wunder des Neustarts

Bahti, Saims Vater, ist es, der am Abend erzählt, wie das Wunder gelang, das ihn und seine Familie aus der Ziegelei führte: „Als die Leute von der Caritas zu uns in die Kolonie kamen, geriet ich ins Grübeln. Sie erzählten von Bildung, von Chancen und anfangs verstand ich nichts. Ich kannte ja nur das Leben in der Ziegelei. 13 Jahre lang. All unsere Kinder kamen dort zur Welt. Zugleich ging es mir gesundheitlich immer schlechter. Mein Rücken schmerzte höllisch, ich konnte kaum noch gerade gehen.“ Er hörte sich um, erfuhr, dass er in der Stadt bei einem Bekannten auf dem Markt Gemüse verkaufen könnte. Mit dem Geld, das er dort verdienen würde und dem kleinen Einkommen von Saims Mutter sollte es möglich sein, wegzuziehen, Miete für eine Unterkunft zu bezahlen und auch dem Malik in Raten die Schulden abzustottern. Dieser stimmte zu und die Familie verließ die Kolonie – für immer.

Was sich im Nachhinein einfach und simpel erzählt, ist in Wahrheit ein gewaltiger Akt des Mutes, den nur wenige wagen. Wer über Jahre hinweg in unsichtbaren Ketten sitzt, fürchtet sich selbst oft am meisten davor, diese zu lösen. Es waren erst Leute wie Prince Alven und seine Kollegen von der Caritas, die das Bewusstsein der Menschen zu verändern begannen. „Aber vor allem“, sagt Bahti dann, und blickt hoch auf das an die Wand gemalte Kreuz, „ist es unser Schöpfer, auf den ich vertraute. Der Herr wies mir den Weg und gab mir die Kraft.“ Ayesha, seine Frau nickt in diesem Moment kräftig. Vorhin hatte sie noch erzählt, dass Saims aktueller Berufswunsch Priester sei – „Vielleicht, weil er gesehen hat, dass mit Jesus an unserer Seite nichts unmöglich ist.“

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