Im Glitzern des Grauens
Es ist die vielleicht ärgste Geschichte, die man erzählen kann. Sie führt in die absolute Ausbeutung fernab jeglicher Zivilisation. Und das für ein Mineral, das wir alle nutzen, ohne es zu kennen. Eine Reise in den Abgrund in drei Etappen – mit der Hoffnung auf Licht am Ende des Tunnels.
Reportage zum Anhören: Im Glitzern des Grauens
Madagaskar, Etappe 1
Aufbruch ins Nirgendwo
Was, wenn wir dort nie ankommen? Oder uns auf dem Weg etwas zustößt? Keiner könnte uns helfen. Es sind Gedanken, die niemand laut ausspricht. Die man lieber gleich wieder verdrängt. Der Finger folgt einer Route auf dem Display des Smartphones: Google Maps, eine Landkarte. Von der einzigen Hauptstraße zweigt ein Weg ab. Anfangs wirkt der dünne Strich auf dem Satellitenbild wie ein befestigter Pfad. Bald aber verliert sich dieser im Nirgendwo. Übrig bleibt ein ockerfarbenes Bild. Eine Art Mondlandschaft. Es sind wohl Felsformationen, unterbrochen von Flussläufen, die wie kleine Äderchen im Nichts verschwinden. „Wohin genau müssen wir da eigentlich?“, fragt Fotograf Simon Kupferschmied vorsichtig. Unser Gegenüber, Père Christian, ein für einen Priester doch recht verwegen wirkender Mann mit roter Sportkappe, kennen wir seit genau einer Stunde. Sein ausgeborgtes Motorrad parkt draußen vor unserer Unterkunft im armen Süden von Madagaskar. Er räuspert sich. Scrollt auf dem Smartphone hin und her, macht das Satellitenbild größer und wieder kleiner. Man merkt ihm an, dass er mit dieser Technik kaum vertraut ist. „Irgendwo dort wohl“, sagt er schließlich. Wir blicken auf das Display. Und sehen nichts. Nur Ocker, das wir als Savanne interpretieren.
Ihosy, Madagaskar,
20:21 Uhr
Père Christian telefoniert. Mit meinem Handy. Auf seinem sei längst kein Guthaben mehr, hat er vorhin angemerkt. Nun versucht er, einen Geländewagen zu organisieren. Für die Fahrt in die Minen. Ihretwegen sind wir über etliche Umwege überhaupt erst an ihn gelangt. Es gäbe zig davon in seiner Diözese hat er mir Monate zuvor bei der ersten Kontaktaufnahme am Telefon berichtet und ja, er fahre selbst immer wieder hin. Bald war klar: Was dort geschieht, übertrifft alles, was wir jemals gesehen hätten – Ausbeutung, Armut, Ausweglosigkeit. Recherchen ließen erkennen, dass sich dahinter ein Millionengeschäft verbirgt. Ein Mineral, das außer auf Madagaskar sonst nur in Indien in großen Mengen vorkommt. Kaum ein Mensch kennt es und doch nutzen wir es alle. Jeden Tag. Für Kosmetik, für Lacke, für Elektronik, für fast alles. Was für eine Geschichte!
Daher sind wir nun auf Madagaskar, zwei Tagesfahrten südlich der Hauptstadt, an einem staubigen Ort, der als letzte Durchgangsstation für Abenteuertouristen gilt. Sind wir auch welche? In nur wenigen Stunden würden wir mit einem fast Fremden ins völlige Nirgendwo aufbrechen. Was, wenn er sich als Scharlatan entpuppt? Was, wenn es das alles gar nicht gibt oder wir es niemals erreichen? Selbst nach intensiver Recherche fanden sich nur spärliche Informationen zu diesen Minen, geschweige denn Bilder. Andererseits: Der journalistische Spürsinn war geweckt. Und Père Christian ist ein Mann Gottes, ein Priester. Wem sonst solle man noch vertrauen, wenn nicht ihm? Gemeinsam trinken wir ein Bier. Er sei froh, dass wir gekommen sind, sagt er, die Welt müsse erfahren, was wir morgen zu Gesicht bekommen werden. Und er habe da einen Plan. Wir sollten uns jedenfalls warm anziehen, wir würden früh aufbrechen.
43 km westlich von Ihosy,
05:14 Uhr
Wo gestern noch unser Finger lag, das waren nun wir – dieser eine blaue Punkt auf dem Smartphone-Display. Draußen dämmert es. Es ist bitterkalt. Père Christian hat tatsächlich einen Geländewagen organisiert. Seit mehr als einer Stunde fahren wir schon, verlassen jetzt die Hauptstraße. Zu Sonnenaufgang erreichen wir ein Dorf. Es wird das letzte auf unserer Route sein. Der drahtige Tété, den Père Christian als Vermittler vorstellt, stößt zu uns. Er führt uns zu einem Verschlag, an dem es heißen Kaffee zur Stärkung gibt. Trinkt ordentlich, meint Tété, für den Rest des Tages gebe es nur mitgebrachtes Wasser. Details zu unserem Ziel sind ihm kaum zu entlocken. „On verra“, sagt er nur auf Französisch, man werde schon sehen.
An der Unfallstelle,
08:17 Uhr
Erst war da Asphalt, später ein staubiger Weg, bald bleiben nur zwei Spurrinnen. Auch die Landschaft verändert sich. Wuchsen anfangs noch Akazien und weideten Zebu-Rinder, so wird es mit jedem Kilometer karger – und heißer. Der Handy-Empfang ist abgebrochen. Seit Stunden ist uns kein einziges Auto mehr begegnet, geschweige denn ein anderer Mensch. Wir, das heißt Père Christian, sein Kompagnon Alexis, Tété, ein Fahrer, unsere Madagassisch-Übersetzerin, der Fotograf Simon und ich – wir sind auf uns allein gestellt. Was das bedeutet, wird klar, als völlig unerwartet ein umgekippter Lkw auftaucht. Wie ein Käfer auf dem Rücken liegt er neben der abgerutschten Fahrbahn. Drei Tage bereits, wie wir erfahren. Der Fahrer und seine Passagiere schlafen seither nachts unter dem Wrack und ver-suchen es tagsüber freizuschaufeln. Hätten sie nicht genug Wasser dabei, wären sie schon verdurstet. Der Fahrer sei betrunken gewesen, findet Père Christian heraus. Er blickt betroffen: „Die Menschen in den Minen“, sagt er: „Sie sind jetzt völlig isoliert! Der Lkw schafft nicht nur die Mineralien raus, sondern bringt auch Nahrungsmittel zu ihnen rein. Bis die Straße wieder frei ist, gibt es kein Durchkommen für die Laster.“
Am Fluss der Krokodile,
9:49 Uhr
Vor uns liegt der dritte Fluss, den es zu durchqueren gilt. Auf den ersten Blick wirkt das Gewässer nicht sonderlich tief, aber der Fahrer spricht von Stromschnellen, die einen mit-reißen könnten, und auch von Krokodilen, die im seichten Wasser lauern. Und er meint es ernst. Gekonnt steuert er den Geländewagen in den Fluss, beschleunigt, Wasser spritzt hoch. Auf einmal ein Ruckeln, ein Reifen, der durchdreht. Zwischengas, ein leichtes Rutschen, ein Knirschen, ein Ächzen, dann ist es geschafft. Erleichtert steigen wir aus dem Fahrzeug, gehen zu Fuß die Böschung hoch, als sich Père Christian bückt. Er klaubt etwas von der Erde auf. Es ist eine Art Platte, hauchdünn, fast schon durchsichtig. Er hält sie gegen die Sonne, die längst unerbittlich herunterbrennt. Das Plättchen glitzert, glänzt, schimmert. „Das ist es! Mica!“ Zum ersten Mal sehen wir mit eigenen Augen dieses Mineral, auf Deutsch auch Glimmer genannt, das uns hierhergebracht hat. Es wird uns am Ziel dieser Reise erwarten.
Madagaskar, Etappe 2
In der Hölle auf Erden
Fliegen kriechen über die Lippen. Schweiß rinnt über den Rücken. Körnchen von Sand bleiben an einem kleben. Und das nur Minuten nach dem Aussteigen. Wir sind angelangt. Nach fast sieben Stunden Fahrt. Und plötzlich ist da Blut. In den Augen einer Frau, die direkt auf uns zuläuft. Ihre Augen sind angeschwollen, mit geplatzten Äderchen darin. Sanft tätschelt die Frau Père Christians Hand, bittet ihn um Medikamente. Sie ist die erste, die wir hier treffen und die Vorbotin für das, was folgen wird. Hier an diesem Ort, einem Plateau im Nirgendwo, brennend heiß, staubig, von der Welt verlassen. Noch immer haben wir keine Ahnung, was uns erwartet. „Seht euch diese Hütten an. Hier leben und schlafen sie“, sagt Père Christian und deutet auf zig selbstgebaute Verschläge aus Bambus und Schilf, die ihm kaum bis zu den Schultern reichen. Leer und verlassen brüten sie in der Hitze. Ein Skorpion krabbelt davor durch den Sand. Der Pfad führt hin zu kleinen Hügeln, die in der Ferne verlockend glitzern. Was wie eine Fata Morgana wirkt, wird zu Mica, je näher wir kommen. Nur sind es nicht wie vorhin kleine Plättchen, sondern ganze Haufen, ein halbes Gebirge aus Gestein. Es ist die Sammelstelle. Der Ort, von wo der Lastwagen, der nun nicht mehr kommen wird, die Ausbeute abholen würde. Und dann, nur ein paar Meter weiter, völlig unvorbereitet, der Blick von der Anhöhe in den Abgrund.
Graben, schürfen, sterben
Dort unten müssen mehrere hundert Menschen sein: Männer, Frauen, Kinder. Sie hacken und graben, schaufeln und schleppen. Es ist ein Anblick, den man ein Leben lang nicht mehr vergisst. Ausgemergelte Gestalten mit der Hacke in der Hand. Zerlumpte Buben, schwere Säcke schleifend. Eine Mutter, die Gestein siebt, ihr kleines Kind, das daneben auf dem Boden kriecht. Steigt man über die Böschung hinab, ist die Erde übersät von Glimmer in all seinen Schattierungen. Dazwischen Löcher, die hinunter in die Stollen führen. Die Franzosen hätten diese noch angelegt, erklärt ein Mann namens Michel, als er in seinen hinabsteigt. Mit Madagaskars Unabhängigkeit ist die Mine in den 1960er-Jahren aufgelöst worden. Aber das Mica, das sei ja weiter hin hier. Bis heute. Michel gräbt hier mit seinen beiden Söhnen von früh bis spät.
Mit Brecheisen, einem Beil und den bloßen Händen treiben sie unter Schweiß den Schacht voran und klopfen große Gesteinsbrocken heraus. Deren Glitzern zeigt, dass sie reichlich Schichten an Glimmer enthalten. Mica, der international dafür gebräuchliche Name, leitet sich vom lateinischen Wort „micare“ ab, das für Funkeln, Schimmern und Strahlen steht. Doch das Einzige, das hier hervorblitzt, ist das Grauen. Michel, der sein Alter auf 50 schätzt, kennt seit Jahrzehnten nichts anderes. Seine Söhne, 17 und 21 Jahre alt, wurden in diesen namenlosen Ort hineingeboren. Erst kürzlich sei drüben einer der Stollen eingestürzt, erzählen sie. Drei ihrer Freunde waren darin. Als es gelang, die Felsbrocken zur Seite zu schieben, fanden sie nur noch deren Leichen.
Lidschatten und Lippenstift
Die Arbeit in den Minen ist klar verteilt. Die Männer und älteren Burschen brechen unten in den Schächten das Gestein aus dem Felsen und schleppen es hoch. Oben übernehmen ihre Frauen mit den Kindern das Sieben, bei dem sich das Mica vom Stein trennen soll. Kinder sind es auch, die die Säcke zu füllen haben, die später rauf zum Lagerplatz geschleppt werden.
Wohin die Lkw, die sonst zweimal die Woche kommen, das Mica bringen? Warum dessen Preis astronomisch ansteigt, sobald es Madagaskar verlässt? Und wofür es später verwendet wird – vom Glitzer-Effekt beim Lidschatten bis hin zum Glänzen des Lacks beim Auto? Auf diese Fragen fehlt der Frau mit dem Strohhut jede Antwort. Soamariy zuckt nur ratlos mit den Achseln. Von all dem hat sie noch nie gehört. „Ich weiß nur, dass uns allen hier keine Wahl bleibt. Entweder wir schuften oder wir sterben. Kommt der Händler mit dem Lkw, nimmt er nur eine begrenzte Menge mit. Bloß das beste, klarste Mica, so viel wie er eben laden kann. Und er zahlt nicht viel dafür.“ Umgerechnet fünf Cent sollen es pro Kilogramm feinst getrenntem Mica sein, meist aber weit weniger, weil das Gewicht des daran verbliebenen Gesteins abgezogen wird. „Das meiste von dem Geld nimmt uns der Fahrer auch gleich wieder ab. Denn nur bei ihm gibt es Sachen von draußen zu kaufen. Wir kommen hier ja nicht weg.“ In dem Dorf, wo wir in der Früh einen Kaffee tranken, war Soamariy zuletzt vor zwei Jahren.
Es ist beklemmend, ihr zuzuhören. Ruhig und sachlich schildert die freundliche Frau ihre Lage. In keinem Moment klagt sie oder schimpft gar, so trostlos auch all das klingt, was sie berichtet. „Wer hier lebt, hat längst alle Illusionen verloren“, sagt Père Christian später: „Es ist ein täglicher Kampf ums Überleben, ein Teufelskreis des Schreckens. Die Menschen sind völlig auf sich allein gestellt. Ohne jede medizinische Versorgung. Wer hier krank wird, der stirbt. Es fehlt ein Brunnen mit sauberem Wasser oder auch eine Latrine für die Notdurft. Die Menschen trinken das Wasser unten aus dem Fluss, kriegen davon oft Durchfall. Immer wieder brechen Seuchen aus, erst kürzlich grassierte die Krätze. Am ärmsten sind die Kinder. Ihnen fehlen jegliche Abwehrkräfte, sie sind unterernährt und leiden wegen des Staubs an Atemwegsinfekten. Dass sie nie eine Schule sehen werden, davon spreche ich erst gar nicht.“ So verwegen Père Christian noch gestern in unserer Unterkunft wirkte, so passend ist er nun hier, genau an diesem Ort. Er, der Mann Gottes mit der Baseballkappe und dem Motorrad. Ein Priester mit rauen Händen und Schwielen daran, der die Tortur dieser Fahrt zu den Ausgestoßenen immer wieder auf sich nimmt, um ihnen an dieser schauerlichen Stätte, wo einzig der Glaube als Hoffnung bleibt, beizustehen.
Allem ausgeliefert
Die Menschen in den Minen sitzen in einer Falle, die längst zugeschnappt ist. Einst kamen sie her, um der noch größeren Armut in ihren Dörfern zu entkommen. Sie hatten gehört, dass sich hier zumindest etwas Geld verdienen ließe. Doch im Nirgendwo angelangt, erkannten sie, dass selbst dort nichts und niemand auf sie gewartet hatte. Der Hitze des Tages und der Kälte der Nacht schutzlos ausgeliefert, mussten sie fern jeder Zivilisation überleben. Und das gelingt nur durch absolute Selbstausbeutung, ein Schuften bis zum Zusammenbruch, um möglichst viele Tonnen aus den verdammten Minen herauszuholen und dabei zu hoffen, dass die Händler sich gütig zeigen und gerade ihre Ausbeute aufkaufen. Jeder Versuch, höhere Preise zu verlangen, ist zum Scheitern verurteilt, da die Händler die Habenichtse gegeneinander ausspielen. Als diese begannen, sich untereinander zu solidarisieren, drohten die Händler ihnen, den Ort mit ihren Lastwägen künftig gar nicht mehr anzufahren. Dörfer, in die die Menschen zurückkehren könnten, haben sie längst keine mehr. „Niemand wartet nirgendwo auf mich“, sagte Soamariy vorhin: „Nur der Herrgott oben im Himmel.“ Und so blieben sie. Gebaren Kinder, die nie ein anderes Leben kennen würden.
Und wurden zu Sklaven ohne Ketten und Aufseher. Ihr Gefängnis braucht keinen Zaun. Ausweg haben sie keinen. Kommt wie jetzt kein Händler durch, der ihnen die überteuerten Lebensmittel verhökert und so den Großteil ihres Hungerlohns gleich wieder einstreift, bleibt ihnen nichts. Nur der Reis, den sie unten im nahen Fluss anbauen und die wenigen Fische, die sich mit Glück daraus angeln lassen. Es ist ihre Hölle auf Erden.
Der Plan des Priesters
Oft, sagt Père Christian, hatte er Tränen in den Augen, wenn er sich von den Menschen in den Minen verabschiedete, auf sein Motorrad stieg und wegfuhr. Sie so zurückzulassen, mit einem gemeinsamen Gebet und einem Segen, das schien ihm nicht nur zu wenig. Nein, es quälte ihn. Aber was sollte er tun? Seine Diözese ist bitterarm, hat kaum Kontakt ins Ausland. Er selbst bekommt keinen Lohn. Die Medikamente, die er mitbringt, spart er sich förmlich vom Mund ab. Dabei ist er ein tatkräftiger Typ, einer, der anpackt, der Ideen hat und einen fähigen Kompagnon, der sie umzusetzen weiß. „In den Armen werdet ihr mich erkennen, heißt es doch“, sagt Père Christian und schaut ein letztes Mal hinunter in die Löcher des Elends. „Ist das nicht unser Auftrag?“
Also fasste der Priester einen Plan. Es ist sein Traum: Mit Hilfe von Spendengeldern könnte eine kleine Schule für die Kinder der Mica-Schürfer entstehen. Ganz einfach, aber effektiv. Zudem sollen Kranke, aber auch Schwangere, die bislang völlig ohne jede Hilfe blieben, künftig medizinisch versorgt werden. Jemand mit Fachwissen und Medikamentenkoffer könnte fortan per Lkw regelmäßig in die Minen mitfahren. Père Christian und die Seinen haben alles ausgearbeitet und zu Papier gebracht. Es ist kein Hirngespinst, sondern ein durchdachtes Konzept. Dieses beinhaltet auch einen Brunnen, damit die Menschen endlich an sauberes Wasser gelangen. Und Ausbildungskurse für all jene, die den Minen für immer entkommen wollen. Die Motivation ist da, alles ist durchgerechnet, der Wille unbändig. „Wenn uns das gelingt“, sagt der Priester voller Hoffnung, „dann wird dieser Alptraum enden und jeder Mensch spüren, dass unser Herr selbst hier nicht auf sie vergessen hat.“
Madagaskar, Etappe 3
Unter Chinas Kommando
Zurück in der Unterkunft in Ihosy. Sie fühlt sich wie ein Paradies an, gerade nach der Rückkehr aus den Minen. Bis der Blick auf die mitgebrachten, durchsichtigen Plättchen fällt. Im Licht glänzen sie und funkeln verführerisch. Welche Faszination und welch Grauen dieses Mica doch auslöst!
Glimmer und Glamour
Dessen „außergewöhnliche Eigenschaften erklären die breite Verwendung“, heißt es in der Fachliteratur. Es hält hohen Spannungen und Temperaturen von bis zu tausend Grad stand, reagiert nicht auf Chemikalien und ist damit der perfekte Isolator. Das erklärt, warum Mica in einer schier unfassbaren Zahl von Anwendungen steckt: von der Batterie bis zum Föhn, der Leiterplatte bis zur LED-Lampe, in jedem Computer, Adapter, ja fast überall, wo Elektronik drinnen ist. Hinzu kommt seine Fähigkeit, Licht zu reflektieren und zu brechen, was zum charakteristischen Glitzern führt. Zu Pulver gemacht, findet sich Mica damit in allerlei Lacken, Farben und Beschichtungen, vom Auto über die U-Bahn bis zum Flugzeug. In der Kosmetik verhilft Glimmer zu mehr Glamour, da kaum ein Lipgloss, Puder oder gar manche Zahnpasta ohne dessen Perleffekt auskommt.
Mica wird so zum Alleskönner unter den Mineralien. Das macht es umso schwieriger, die gravierenden Menschenrechtsverletzungen bei dessen Förderung gegenüber Endproduzenten anzuprangern. Eine wegweisende Studie der Kinderschutzorganisation „Terre des hommes“ hat ermittelt, dass Madagaskar mit 176 meist illegalen Mica-Minen einer der weltweit größten Abbauer des Minerals ist. Das führt zur drängenden Frage, wohin das Mica gelangt, nachdem es die Lastwägen aus den Minen geschafft haben.
Der Preis der Ausbeutung
Wer den Verkehrsfluss auf der Hauptstraße von Ihosy länger beobachtet, der bemerkt sie bald, die staubigen und völlig verschmutzten Lkw, die Mica geladen haben dürften. Folgt man ihrem Weg, wird eine von Ziegelmauern umfasste Parzelle am Rand der Stadt zur Endstation. Was sich dahinter abspielt, schreibt fort, was wir zuvor in den Minen mitansahen.
Erneut sind es Dutzende Menschen, nun aber meist Frauen mit Kindern, die auf dem Boden hocken, große Brocken und kleine Plättchen an Glimmer vor sich. Was sie hier von früh bis spät machen, ist monoton und mühselig. Unter der prallen Sonne zerhacken sie mit spitzen Hämmerchen den Glimmer. Letzte Gesteinsreste sollen sich so vom Mineral lösen und die Platten Schicht für Schicht trennen lassen. Es gilt, das Mica für den Export vorzubereiten. Dessen Preis hat sich seit dem Verlassen der Mine fast verdoppelt. Bekamen die Arbeiter dort im besten Fall fünf Cent pro Kilogramm, so ist dieses nun schon neun Cent wert und wird sich bis zum Tiefseehafen noch auf 21 Cent verteuern. Das Geld dabei verdienen aber keineswegs die Frauen, die hier schwer schuften, sondern die Exportfirmen. Diese stammen bereits aus jenem Staat, der das Ziel des madagassischen Mica ist: China. „Terre des hommes“ hat errechnet, dass 87 Prozent der Gesamtexportmenge der Insel in die Volksrepublik gelangen. Dort weiterverarbeitet wird ein Kilogramm Mica sage und schreibe zwölf Euro kosten und, bis es nach Europa gelangt, im Preis auf 50 Euro ansteigen – es ist dann das Tausendfache dessen, was die Ausgebeuteten in den Minen ohne Namen erhalten haben.
Kontrollverlust
„Hört auf mit dem Fotografieren!“ – Der Aufruf kam, als wir bereits alle Bilder im Kasten hatten: Das der Frau mit dem Hammer in der einen und ihrem Baby in der anderen Hand. Das der Kinder, die im Staub unaufhörlich klopfen und über Schmerzen im Rücken klagen. Es sind Fotos, die – wie zuvor in den Minen – zu Fragen nach der Verantwortung führen, die man sich besser gar nicht erst stellt. Denn die Antworten könnten mit Blick auf verworrene internationale Firmen-Konglomerate zu groß ausfallen, als dass man ihnen gewachsen wäre.
„Es geht mir darum, im Kleinen etwas an der Wirklichkeit dieser Menschen zu ändern“, das hat Père Christian immer wieder gesagt. Er ahnt, dass er als armer Pfarrer aus einer vergessenen Diözese am Ende der Welt diese nicht retten kann. Er weiß, dass er nicht 20.000 Menschen, die in den Mica-Minen Madagaskars schuften, von ihrem Leid zu erlösen vermag. Aber er weiß zugleich auch, dass er hier und jetzt anpacken wird und damit jene rettet, die ihm beim Abschied die Hand tätscheln, ihn umarmen und ihre ganze verbliebene Hoffnung in ihn setzen.
„Was macht ihr hier eigentlich?“, fragt der Chinese nun schroff, als er aus seinem gewaltigen Geländewagen klettert, mit dem er gerade in den Hof des Mica-Lagers gefahren ist. Er ist der Aufseher, der Vertreter des Eigentürmers. „Nichts“, antworten wir, „wir schauen nur.“ Und haben doch schon längst genug gesehen.