Ein moderner Märtyrer

Akash Bashir war 20, als er sein eigenes Leben opferte, damit tausend andere nicht sterben. Seine Geschichte führt hinab ins verborgene christliche Dasein in Pakistan und zu Schicksalen einer ausgegrenzten Minderheit, die trotz aller Anfeindungen voller Mut und Stärke ist.

Text: Christoph Lehermayr Fotos: Simon Kupferschmied
20 min Lesedauer

Was würdest du tun? Gerade eben hast du eine Explosion gehört. Nicht weit entfernt, vielleicht ein paar hundert Meter. Es war eine laute Detonation, Klirren von Glas, gefolgt von Schreien. Was passiert da? Du bist 20, hast dich freiwillig gemeldet und stehst als Sicherheitsmann vor einer Kirche. Dein ganzes Leben liegt noch vor dir. Es ist der vierte Fastensonntag vor Ostern – laetare, freue dich! Ein tröstlicher Tag. Drinnen feiern gerade mehr als tausend Menschen die Messe. „Jeder, der Böses tut, hasst das Licht und kommt nicht zum Licht, damit seine Taten nicht aufgedeckt werden“, sagt Jesus dort im Tagesevangelium zum Pharisäer Nikodemus. Du aber hörst einen deiner Kollegen voller Panik rufen: „Macht das Tor zu! Schnell, macht das Tor zu!“ Selbst bist du unbewaffnet, sollst jedoch Gefahr von den Deinen abwenden. Denn Anschläge auf Gotteshäuser gab es schon zuvor. Als Christen seid ihr eine Minderheit und damit im Visier von Radikalen. Und dann siehst du ihn kommen. Einen Mann mit einer Pistole. Er läuft in Richtung des Tores. Er zielt. Und, was würdest du tun?

Als die Frauen fehlen

Pakistan ist ein Land, aus dem selten gute Nachrichten zu uns dringen. Macht es Schlagzeilen, sind es entweder Naturkatastrophen wie die letztjährigen Überschwemmungen oder islamischer Extremismus. Nicht ganz zufällig fand Osama bin Laden in einer pakistanischen Garnisonsstadt über Jahre hinweg unbehelligt Unterschlupf. Ebenso wie die Taliban, die von hier aus ihre Rückkehr an die Macht im Nachbarland Afghanistan planten. So wird Pakistan, ob zurecht oder unrecht, in der Wahrnehmung der Welt zu einem Land im Schatten. Dass dort auch an die vier Millionen Christinnen und Christen leben, überrascht selbst viele, die sich in der Weltkirche halbwegs auskennen.

Rote Ziegelsteine formen eine Art Portal über der Zufahrtsstraße nach Youhanabad. In der Mitte prangt ein weißes Kreuz. Dahinter liegt das größte christliche Viertel von Lahore, Pakistans zweitgrößter Stadt. In deren Zentrum zeugen prächtige Tempel, Moscheen und Paläste von früherem Glanz. Heute leben zehn, zwölf oder gar 14 Millionen Menschen hier, so genau weiß das keiner. Die Stadt wächst ins Unaufhörliche, der Verkehr kollabiert, selbst die Mopeds kommen kaum noch voran und gebaut wird nah an der Platzangst. Wirr und wild verläuft auch in Youhanabad ein Geflecht an Straßen und Wegen. Geschäfte mit Krimskrams reihen sich an Stände mit Obst, Gemüse und Fleisch. Esel karren Lasten, Motorräder preschen vorbei. Dass hier 100.000, vielleicht auch 150.000 Christinnen und Christen wohnen, wird klar, wenn einem wieder einfällt, dass ein Straßenbild auch aus Frauen bestehen kann. Denn das vergisst man nach einiger Zeit in Pakistan schon mal. Sieht man im Zentrum noch etliche von ihnen, sinkt ihre Quote mit jedem Kilometer, den es an die Ränder der Stadt geht. Erst verschwindet ihr Haar, dann Teile ihres Gesichts, bis in der armen Vorstadt nur noch ein Sehschlitz bleibt, bevor sie wie Gespenster gar nicht mehr auf den Straßen auftauchen. Und plötzlich, weit draußen, im christlichen Youhanabad, kehren sie zurück: die Frauen. 

Was es heißt, Christ zu sein

Es ist für Außenstehende nicht leicht zu begreifen, was es heißt, in der islamischen Republik Pakistan mit ihren 224 Millionen Einwohnern, Teil der winzigen christlichen Minderheit zu sein. Father Paulus Khan, Superior der Oblaten der Unbefleckten Jungfrau Maria, ahnt das und hat deswegen eine Gesprächsrunde zusammengetrommelt, die Einblick gewähren soll. Hören wir ihre Stimme, doch nennen wir keine Namen, um sie zu schützen. Denn Christin oder Christ zu sein, das bedeutet in Pakistan allzu oft auch: in Gefahr zu sein.

„Es gibt hier in Youhanabad keine öffentlichen Schulen, die Straßen sind schlecht, gute Jobs weit weg, und dennoch ist es für uns wie ein Paradies. Warum? Weil wir halbwegs unbehelligt bleiben, unter uns sind, uns nicht ständig für den Glauben rechtfertigen müssen oder bedrängt werden, zum Islam zu konvertieren. Gerade für unsere Mädchen und Frauen ist es ein Ort des Aufatmens.“

Ein Menschenrechtsaktivist

„Früher war es entspannter in Pakistan. Aber die Gesellschaft verändert sich. Es kommt viel Geld aus den Golfstaaten, das fließt in die Koranschulen, da werden etliche radikalisiert. Ihnen wird beigebracht, dass wir Christen minderwertig wären, kufar, wie sie sagen, das ist ein arabischer Ausdruck, den sie auch hier verwenden. Er steht für Ungläubige. Es ist zum Fürchten.“

Eine Lehrerin

„Während ein Muslim, der eine Christin heiratet und sie damit zum Konvertieren bringt, gefeiert wird, zünden sie dem Christen, der eine Muslima ehelichen würde, das Haus an und ein Mob wird ihn töten wollen.“

Ein langjähriger Geschäftsbesitzer

„Die Christen machen meist die niedersten Arbeiten, weil sie selten bessere Jobs finden. Sie putzen Straßen, entsorgen den Müll, säubern die Wohnungen der Reichen. In den Zeitungsinseraten steht bei solchen Jobs ausdrücklich: Nur Christen erwünscht.“

Eine Ordensschwester

„In der staatlichen Schule musste ich Koran-Verse rezitieren und wurde dennoch gemobbt und beschimpft. Schmutzig sei ich, unrein, niemand wollte neben mir sitzen. Wir waren nur zwei Christinnen in der Klasse, verschleierten uns natürlich zum Schutz, aber das änderte nichts, sie ließen uns nicht in Ruhe. Dazu kam die Angst, verschleppt und vergewaltigt zu werden. Du bist quasi Freiwild. Jetzt, wo ich hier zur Schule gehe, ist es anders.“

Eine Schülerin

Mut und Stolz

Father Khan, Superior der Oblaten, nickt während dieser Gespräche, die Stunden so weitergehen könnten. Er ist ein milder, weiser Mann, der sich längst nicht mehr mit Diagnosen aufhält, sondern Antworten liefert. In einer davon steht er gerade selbst: das Mazenod-College. Sein Orden bietet hier Jugendlichen eine fundierte Ausbildung und damit die Chance auf ein Leben abseits der Ausgrenzung. „Bildung heißt Aufstieg“, sagt Father Khan, „nur so kann es uns als Minderheit gelingen, auch unter schweren Voraussetzungen der Falle zu entkommen.“ Sein Traum ist es, aus dem College die erste christliche Universität Pakistans zu machen.

Wer durch Youhanabad spaziert, sieht hingegen erst mal Armut: christliche Familien, die von der Hand in den Mund leben, oft Unsummen an ihre meist muslimischen Vermieter bezahlen für die Löcher, in denen sie hausen müssen. Denn sogar hier in Youhanabad, dem größten christlichen Viertel Pakistans, gehören viele der Häuser Muslimen. Christen bringen es nur selten zu Eigentum. Wie auch, in einem Land, in dem die meisten von ihnen ein Leben lang Bürger zweiter, wenn nicht dritter Klasse bleiben. Und trotzdem kommt mit dem Kreuz, das an jeder der unverputzten Wände ihrer Herbergen hängt, auch der Stolz. Das Christentum schweißt zusammen, es verbindet, es ist das Seil, an dem sie sich hochziehen. 240 Kirchen stehen in Youhanabad, die Priesterseminare der Stadt sind voll, das geistige Schaffen fröhlich und reich an Leben. Etliche Orden betreiben Schulen, Krankenstationen und Pflegeheime für die Älteren. Man steht Seite an Seite, vereint in der gemeinsamen Erfahrung, aus der Trotz geworden ist. „Wir als Christen halten zusammen, helfen uns, wo wir können“, sagt Sumera, eine resolute Mutter von drei Kindern, die als Hausmagd arbeitet. „Schon Jesus hat davor gewarnt, dass die, die sich zu ihm bekennen, verfolgt und verleumdet werden. Aber was sollen wir tun? Etwa davonlaufen?“ Entgeistert schüttelt sie den Kopf.

„Bildung heißt Aufstieg. Nur so kann es uns als Minderheit gelingen, auch unter schweren Voraussetzungen der Falle zu entkommen.“

Father Paulus Khan

„Ich werde sterben, aber…“

Und, was würdest du tun? Es ist der 15. März 2015, 11:10 Uhr. Gerade hat sich in der protestantischen Christ Church, nur ein paar hundert Meter entfernt, ein Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt. Elf Menschen sind tot. Davon weißt du noch nichts. Du ahnst aber, was kommt, als du den Mann mit der Pistole siehst. Du heißt Akash Bashir, bist freiwilliger Wächter vor der katholischen St. John-Kirche. Freunde werden dich später als ruhigen, zuverlässigen jungen Mann beschreiben, als einen, der hier in Youhanabad in einem Ausbildungszentrum der Salesianer Don Boscos zum Glauben fand. Die Schule ist nicht so deins, aber den Glauben, den nimmst du ernst. Deine Mutter wird dem Reporter aus Österreich erzählen, wie stolz du darauf warst, als Security am Sonntag deinen Dienst zu tun. Und sie wird auch von deinem Traum berichten, den du damals hattest und ihr fast verschwiegst. Im Schlaf sahst du dein eigenes Begräbnis, den Sarg, die vielen, vielen Menschen, die ihn trugen. Deine Mutter, sie hatte Angst um dich, hielt nach all den Anschlägen, die es in Pakistan schon gab, deinen Dienst für viel zu gefährlich. Aber du hast geantwortet: „Mama, mach dir keine Sorgen und bete für mich. Es ist besser, wenn einer sein Leben gibt, damit dadurch viele andere gerettet werden können.“
Und nun stehst du da, siehst den Mann. Er zielt in Richtung deiner Kollegen, drückt ab, verfehlt. Du läufst auf ihn zu, spürst den Sprengstoff, den er um seinen Leib gewickelt hat. Er warnt dich und will dich verschonen. Du jedoch schreist: „Ich werde sterben, aber ich lass dich nicht in die Kirche durch.“ Dann stürzt du dich auf ihn, ziehst ihn zurück. Nur Sekunden vergehen. Seine Sprengladung zündet. Dein weißes Hemd verfärbt sich rot.

„Das Faszinierende an ihm ist, dass er ein absolut durchschnittlicher junger Mann, mit einem zugleich unfehlbaren Kompass des Glaubens war, der durch sein bewusstes Handeln zum leuchtenden Vorbild wurde.“

Erzbischof Sebastian Shaw

Pakistans erster Seliger

An der Stelle, wo Akash Bashir sein Leben ließ, und dadurch das von mehr als tausend anderen bewahrte, behält er bis heute alles im Blick. Sein Porträt ist direkt gegenüber dem blauen Metalltors vor der Kirche in eine Hausecke eingelassen. Vor dieser steht nun Sebastian Shaw, der Erzbischof von Lahore, und berichtet vom Vorbild dieses Mannes, der Pakistans christliche Gemeinde für immer veränderte. Offiziell ist er vom Vatikan zum „Diener Gottes“ erklärt worden. An seinem Todestag begann im Vorjahr der Prozess für seine Seligsprechung. „Das Faszinierende an ihm ist“, sagt Erzbischof Shaw, „dass er ein absolut durchschnittlicher junger Mann, mit einem zugleich unfehlbaren Kompass des Glaubens war, der durch sein bewusstes Handeln zum leuchtenden Vorbild wurde.“

Der Terroranschlag, begangen vom pakistanischen Arm der Taliban, verkehrte sich ins Gegenteil des Erwarteten. „Gewalt wird in Liebe umgewandelt und so Tod in Leben“, sagte Papst Benedikt XVI. einst am Weltjugendtag. Das bestätigt Erzbischof Shaw, der von aufblühenden Gemeinden und Zulauf in den Priesterseminaren erzählt. „Gerade bei uns in Youhanabad waren nur eine Woche nach der Tat die Kirchen noch voller als zuvor“, erinnert sich auch Akash Bashirs Vater Emanuel. Voller Stolz holt er die ganze Familie und führt in einen Raum, der längst seinem Märtyrersohn gewidmet ist. An den Wänden hängen Akashs Bilder sowie Auszeichnungen, die ihm zuteil wurden. In den Gesprächen beschreibt ihn seine Familie als Vorbild im Glauben – für sie war er schon zu Lebzeiten das, was die Welt nach seinem Tod in ihm sah. „Für mich ist er ein Schutzengel, einer, der mir zielgerichtet den Weg weist“, sagt sein jüngerer Bruder Arsalan. Voller Stolz steht er nun genau dort, wo zuvor Akash seinen Dienst versah: Jeden Sonntag, als Wächter vor der St.-John-Kirche. Und, was würdest du tun? 

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