Ein Mann, eine Million und viel Marmelade

Was verschlägt einen beseelten Religionslehrer aus Oberösterreich in eines der ärmsten und gefährlichsten Länder der Welt? Und was kann ein Einzelner dort schon bewirken? Auf zu Antworten in den Südsudan – mit Mut, Zuversicht und Johann Rauscher.

Text: Christoph Lehermayr Fotos: Simon Kupferschmied
19 min Lesedauer

Reportage zum Anhören: Ein Mann, eine Million und viel Marmelade

„Mah, is des org!“ Franz Bertalan ist an sich kein zartbesaiteter Mensch. Als Direktor einer Berufsschule in Oberösterreich lernte er früh, ganz unterschiedliche Herausforderungen zu meistern: Unterrichten und Organisieren unter Stress, der Umgang mit schwierigen Jugendlichen, das Ankämpfen gegen so manche Bürokratie. Nichts davon ist ihm fremd. Aber jetzt, beim Blick aus dem Fenster des Fahrzeugs, bleibt ihm der Mund offen. Was er sieht, sprengt jede Einordnung. Wohin zuerst schauen? Auf die Bretterbuden und Zeltverschläge, in denen die Menschen hausen? Den Müll und den Matsch, die sich davor ausbreiten? Auf das Plastik, die Blechdosen, die Kartons? All das, was in Lagerfeuern am Rande der Straße lodert?

Die Piste selbst ist voll von Schlaglöchern. Qualmende Mopeds zwängen sich zwischen Herden von Ziegen, streunenden Hunden und ächzenden Lkw hindurch. Und dann die Kinder, sie laufen, sie spielen, sie tragen löchrige Hemdchen am Leib. Hunde bellen, irgendwo schreit jemand, ein Polizist bläst in seine Trillerpfeife. Und Franz Bertalan wendet sich zu seinem Begleiter, schaut ihn an und fragt: „Hans, warum tust du dir das an?“ Der Angesprochene wird ihm die Antwort noch liefern, nicht gleich, aber mit jedem Tag, der vergehen wird, ein Stückchen mehr. Er heißt Johann Rauscher, ist ein pensionierter Religionslehrer und stammt ebenfalls aus Oberösterreich. Er und Franz sind Freunde und kennen einander schon lange. „Irgendwann“, sagte Franz früher, „fahr ich einmal mit dir gemeinsam da runter, um mir das alles anzuschauen.“ „Irgendwann“, das war jetzt. Und „da runter“, das ist Juba, die Hauptstadt des Südsudans. 

Keine Messe ohne Emmanuel

Stunden später streifen die beiden durch ein Flüchtlingscamp mitten in der Stadt. Zerfetzte Zeltplanen hinter einer Mauer. Gleißende Hitze. Herumwirbelnder Staub. Und Freude. Echte, ehrliche Freude. Männer, die Hans umarmen, Frauen, die ihm zuwinken, und einer auf dem Dreirad, die Fahrradkette in einer Handkurbel an der Lenkstange, der direkt auf ihn zufährt. „Hans, my friend! Hans!“ Der bückt sich, ein kräftiger Handschlag, eine innige Umarmung. „Das ist mein Freund Emmanuel“, sagt Hans, „ich kenne ihn schon Jahre. Seit er zwölf ist, leidet er an Kinderlähmung. Das Dreirad hat er vor langer Zeit geschenkt bekommen. Mit dem fährt er zum Markt, erledigt dort kleine Arbeiten, damit er von dem verdienten Geld seine Familie über Wasser hält. Aber seine wahre Leidenschaft ist das Trommeln.“ Nur Momente später erklingen rhythmische Klänge, die jeden beschämen, der selbst schon einmal getrommelt hat, so voller Schwung und Kraft sind sie. Rundherum wird bald getanzt und Hans kann sich dem kaum entziehen. Kein Gottesdienst kommt ohne Emmanuel aus. Er ist der Taktgeber für das ganze Camp. Dieses wuchert und wächst, ohne dass es irgendjemanden kümmern würde.

Den Staat gibt es als solchen kaum. Seine Politiker sind mit sich selbst und dem Belauern ihrer Gegner beschäftigt. Und seine Beamten und Polizisten, die seit sieben Monaten kein Gehalt mehr erhielten, vor allem damit, dieses den Menschen abzupressen. Präsent hingegen ist die Kirche. So war es einst Bischof Paride Taban, der Hans fragte, ob nicht er im Camp etwas auf die Beine stellen könnte, um das Leid zu lindern. Seither gelangten dank ihm an die 8.000 Menschen zu mehreren Brunnen und damit erstmals an sauberes Trinkwasser. Gemeinsam mit einer Pfarre in Juba sorgt Hans Rauscher auch dafür, dass Kinder aus dem Camp eine Schule besuchen können. Ein Traum, der ihren Eltern, die in den Wirren von fünf Jahrzehnten Krieg in die Stadt geschwemmt worden waren, ein Leben lang verwehrt geblieben ist.

Von Attnang ab in den Sudan

Wer nun aber annimmt, dieser Hans Rauscher sei eine Art edler Spender aus dem reichen Westen, ein Mäzen, der sich selbst darin am besten gefällt, inmitten des Elends Gutes zu tun, irrt vollkommen. Seine Geschichte ist vielmehr die eines Mannes, der sich berühren lässt, der offen ist und hinhört, nicht nur nickt und bald wieder vergisst, sondern der den Dingen auf den Grund geht und bei dem ein Handschlag einer Zusage und einem Versprechen gleichkommt. So führt seine Geschichte zurück in die 1980er-Jahre, als er ein junger Religionslehrer an der Berufsschule in Attnang-Puchheim war. Bei Vorträgen erfuhr er vom Wüten der islamistischen Diktatur im Sudan, sah Bilder von Menschen mit abgehackten Gliedern, die so laut der Scharia bestraft worden waren. Die Bilder entfachten in ihm zweierlei Emotionen: Erst Zorn über die Grausamkeit. Und dann Mitgefühl für die Verstümmelten. Helfen müsse man, dachte er, irgendwie helfen. Also sammelte er Kleidung, und als sich diese nicht hinunterschicken ließ, beschloss er, sie selbst abzuliefern. 1986 erreichte er erstmals Khartum, die Hauptstadt des damals noch vereinten Sudans, der im Norden muslimisch und im Süden mehrheitlich christlich dominiert war. Was sich für ihn anfangs wie Geschichten aus 1001 Nacht anfühlte, entpuppte sich bald als ein Schreckensepos, das ihm weitere Reisen abverlangte und in die Welt der christlichen Minderheit eintauchen ließ.

Geschichte zurück in die 1980er-Jahre, als er ein junger Religionslehrer an der Berufsschule in Attnang-Puchheim war. Bei Vorträgen erfuhr er vom Wüten der islamistischen Diktatur im Sudan, sah Bilder von Menschen mit abgehackten Gliedern, die so laut der Scharia bestraft worden waren. Die Bilder entfachten in ihm zweierlei Emotionen: Erst Zorn über die Grausamkeit. Und dann Mitgefühl für die Verstümmelten. Helfen müsse man, dachte er, irgendwie helfen. Also sammelte er Kleidung, und als sich diese nicht hinunterschicken ließ, beschloss er, sie selbst abzuliefern. 1986 erreichte er erstmals Khartum, die Hauptstadt des damals noch vereinten Sudans, der im Norden muslimisch und im Süden mehrheitlich christlich dominiert war. Was sich für ihn anfangs wie Geschichten aus 1001 Nacht anfühlte, entpuppte sich bald als ein Schreckensepos, das ihm weitere Reisen abverlangte und in die Welt der christlichen Minderheit eintauchen ließ.

Küken aus dem Kühlschrank

Da der Weg vom Reden zum Handeln bei ihm ein kurzer ist, fand Rauscher rasch zahlreiche Unterstüt-zer in Oberösterreich, die gemeinsam den Verein proSudan gründeten. Einige derer, die Zeit und Geld spendeten, nahm er mit auf seine Besuche. Ab dem Jahr 2011 verlagerten sich diese in den unter hohem Blutzoll erkämpften, nun unabhängig gewordenen christlichen Süden. Der neue Staat ist zwar siebenmal so groß wie Österreich, hat etwas mehr Einwohner, verfügte bei seiner Gründung aber gerade einmal über 185 Kilometer an asphaltierten Straßen, kaum Strom und auch sonst wenig, was Zivilisation ausmacht: „Einmal legte ein Freund dort gekaufte Eier in einen Kühlschrank und wunderte sich nicht schlecht, als einige Zeit später daraus das Piepen frisch geschlüpfter Küken drang.“

Verdutzt ist auch Franz Bertalan am nächsten Tag, als er die schiere Zahl an Kindern in blau-gelber Schuluniform sieht, die ihn und Hans bereits erwartet. Es müssen an die Tausend sein, die im Freien auf Bänken sitzen, bald aber stehen, singen und jubeln, sobald die Ministranten einziehen und die Messe beginnt.

Zelebrant ist Father Nicholas Kiri, ein Einheimischer und zugleich einer der Schlüssel in Rauschers Wirken. Mit seiner herzlichen und zugleich hemdsärmeligen Art ist Rauscher ein Anpacker, der rasch vom Formellen ins Freundschaftliche wechselt und so dauerhaft belastbare Verbindungen schafft. Denn als Einzelkämpfer wäre er im Südsudan längst gescheitert. So aber schart er bald Verbündete vor Ort um sich, die ihm dabei helfen, seine Vorhaben in die Tat umzusetzen. Father Nicholas, der einst neben seinem Studium in Rom als Urlaubsvertretung des Pfarrers im oberösterreichischen Molln aushalf, ist einer von ihnen. Gemeinsam renovierten sie Klasse für Klasse in der desolaten St.-Theresa-Grundschule, die Father Nicholas noch als Kind selbst besucht hatte. Der Erfolg in Form blitzblanker Klassenräume kann sich sehen lassen. Die Messe in der Schule gilt nun dem Dank und dem Gedenken an die kürzlich verstorbene Schwester Rosmarie Süß vom Konvent der Benediktinerinnen in Steinerkirchen. Sie hatte als Mutter der Schule deren Renovierung initiiert.

Juba, Australien und retour

Rauschers Motivation und Triebfeder sind die Kinder. Kinder, die das erste Mal eine Schule besuchen. Sie erhalten so die Chance, einen Beruf zu erlernen. Und der wird sie in diesem Staat des Scheiterns in die Reihen der Privilegierten katapultieren. Rauschers Methode ist dabei immer dieselbe: Nicht davonlaufen vor der Übermacht der Herausforderungen und Probleme, sondern diese zerteilen und trennen in ein Projekt nach dem anderen, das es umzusetzen gilt. Eine Vorgehensweise, mit der ein weiterer Mann in Rauschers Reihen durchaus viel anfangen kann: Doktor Betram Kuol, einst Hirtenjunge, heute Agrarökonom mit Diplom der Universität im deutschen Bonn. Wie Rauscher ist er ein Macher, ein ständig unter Strom stehender Manager mit weichem Herzen, der nicht an diesem Ort sein müsste, würde er nicht das tiefe Bedürfnis danach verspüren.

Einst war er mit Frau und Kindern nach Australien ausgewandert, fand dort einen gut bezahlten Posten in einem Ministerium und verkündete seiner verblüfften Chefin dennoch eines Tages, dass er in den Südsudan zurückkehren würde. Als sie ihn nach dem Grund fragte, antwortete er ihr: „Für die Arbeit, die ich hier leiste, wären von den zwanzig Millionen Einwohnern Australiens sicher sechs Millionen ausreichend qualifiziert. In meiner Heimat Südsudan trifft das von zwölf Millionen Einwohnern wohl auf genau 20 Menschen zu.“ Also nahm er den nächsten Flug nach Juba, sah seine Familie fortan nur noch zweimal im Jahr, baute aber nicht nur ein einzigartiges Ausbildungszentrum für Jugendliche auf, sondern rettet jeden Tag mit Baby-Brei und Bohnen das Überleben von Kindern. Und so ergibt eines das andere: Da neue Klassenräume, dort ein neues Lehrlingszentrum. Hier Fahrzeuge für Doktor Kuols Laiengemeinschaft, dort Hilfe für den Aufbau einer Farm, um selbst Obst und Gemüse anzubauen. Alles in allem dürfte es an die eine Million Euro sein, die Rauscher in all den Jahren gesammelt und mit seinem Verein proSudan im ganzen Südsudan investiert hat. Er, der selbst mindestens einmal im Jahr vor Ort ist, um die Fortschritte zu kontrollieren, und dazwischen daheim in Oberösterreich von Vortrag zu Vortrag tingelt, ist der Mann, dem man vertraut, von dem man weiß, dass jeder Euro auch ankommt. Und der sich irgendwann fragte, warum er in einem Land, in dem so viele Menschen hungern müssen, überall Mangos auf der Erde herumliegen sah. „Für mich ist Nachhaltigkeit das oberste Prinzip“, sagt er. „Warum also lässt man da die Mangos verrotten? Mein erster Gedanke war: Mach Marmelade daraus. Oder Trockenfrüchte.“ Letztere ließ die hohe Luftfeuchtigkeit schnell braun und bitter werden. Aber das mit der Marmelade, das sollte klappen.

Der Marmeladenkönig von Juba

So begann Rauscher zu experimentieren. Zuerst mit den mitgebrachten Mangos und weiteren Früchten daheim in Oberösterreich. Die köstliche Marmelade füllte er in Gläsern ab und begann bald pro Jahr bis zu 3.000 Stück davon auf Märkten zu verkaufen. Alle Einnahmen fließen in seine Projekte. Rasch aber wollte er auch in Juba loslegen. Die dafür notwendige Gerätschaft gab es vor Ort kaum, also ließ er sie hinschaffen und begann, die ersten Frauen in die Kunst des Marmeladekochens einzuführen. Arbeitsplätze entstanden, Schülerinnen der Handelsakademie des Stifts Lambach entwarfen ein Marketing-Konzept, der Vertrieb wurde hochgefahren. Auch jetzt werden wieder reichlich Mangos und Ananas geschält. Rauscher, mit Handschuhen und im weißen Mantel, schnippelt und rührt und erzählt dabei, dass die Konfitüre bei der Kleinkinderausspeisung ebenso Absatz findet wie in der Schule und am lokalen Markt.

So skeptisch viele in einem Land waren, wo es zuvor kaum Marmelade gab, so groß ist nun der Erfolg. Und der liegt am Zutrauen, am Anpacken, am Ausprobieren. „Man muss sich etwas vornehmen und es dann aber auch tun“, formuliert Rauscher selbst eine simple Weisheit, an der andere oft scheitern. Sein Begleiter Franz lacht. „Du bist ein Tausendsassa“, sagt er voll des Respekts. Die letzten Tage haben ihm vor Augen geführt, dass es wenig bringt, das Versagen anderer zu beklagen. Es braucht einen, der Licht in das Dunkle bringt. Einen, der selbst dabei strahlt. Sein Freund Hans ist genau so einer.

Auf Krieg folgt Hunger

Unter britischer Kolonialherrschaft prägte der arabisch dominierte Norden des Sudans die Entwicklung, der Süden galt als eine Art Naturreservat. Mit der Unabhängigkeit 1956 änderte sich daran wenig. Die mehrheitlich christlichen Schwarzafrikaner des Südens fühlten sich von den meist muslimischen Arabern des Nordens diskriminiert – es galt die Scharia mit drakonischen Strafen. Es folgte ein mehr als fünf Jahrzehnte dauernder Kampf um die Unabhängigkeit, die 2011 erreicht wurde. Bald brachen aber zuvor verdeckte ethnische Konflikte im jüngsten Staat der Erde offen auf. Heute gilt der Staat als gescheitert: 2 von 3 seiner Bewohnerinnen und Bewohner hungern, 1,4 Millionen Kinder sind akut unterernährt.

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