Ein Dorf macht Schule

In Madagaskars zerklüftetem Hochland sind die Wege weit, besonders für Kinder. Dadurch potenzieren sich all die Probleme der Insel: Armut, Hunger und fehlende Bildung. Doch eine einfache Idee hat die Kraft, vieles zum Besseren zu verändern.

Text: Christoph Lehermayr Fotos: Simon Kupferschmied
19 min Lesedauer

Alles beginnt mit einem Paradoxon und einer Frage, die einen nicht mehr loslässt. Das erste Mal taucht sie bei der Fahrt über die „Route Nationale“ Nummer 7 auf, welche die Hauptstadt Madagaskars mit dem Süden der Insel verbindet. Es geht durch das zerklüftete Hochland, eine atemberaubend schöne Landschaft voll lieblicher Hügel, steiler Abhänge und bewegender Kulissen. Am Fenster des Fahrzeugs gleiten auf hunderten Kilometern Fahrt Felder und Reisterrassen vorbei. Letztere verdeutlichen – ganz im Unterschied zum Afrika des Festlands – dass die Besiedelung Madagaskars von Asien ihren Ausgang nahm. Das zeigt sich bis heute etwa auch an der Sprache, dem Madagassisch, das mit Dialekten aus Indonesien verwandt ist.

Felder und Reisterrassen also. Und überall Menschen, die hart schuften. Mal mit Pflügen und einem vorgespannten Ochsen, viel öfter aber nur mit der Kraft der eigenen Hände. Wie also, so fragt man sich, kann es sein, dass eine Insel, auf der derart hart in der Landwirtschaft gearbeitet wird, hungert? Wie ist es möglich, dass in einem Land, in dem kein Krieg tobt, drei Viertel der Menschen extrem arm sind und ihnen weniger als zwei Euro pro Tag zum Überleben bleiben? Wer sich tiefer in solche Statistiken eingräbt, stößt auf noch weitere erschreckende Zahlen. Etwa die Hälfte aller Kinder auf Madagaskar sei mangelernährt, ist dort zu lesen. Ebenso vielen fehle der Zugang zu sauberem Trinkwasser. Was also läuft falsch auf dieser schaurig-schönen Insel?

Eine Klasse, eine Schule

„Ja“, sagt ein sechs Jahre alter Bub zwei Tage später: „Es stimmt. Früher bin ich manchmal eingeschlafen und mein Bauch war leer, er hat gegrummelt, weil ich solch einen Hunger hatte. Aber es gab bei uns einfach nichts zum Essen.“ Der Bub heißt Marcel und er blickt einen dabei treuherzig mit seinen großen Augen an. Es ist früher Morgen und die Sonne taucht die Hügellandschaft in ein verträumt anmutendes Ocker. Marcel stapft auf einem sandigen Weg dahin. Neben ihm tollen andere Buben und Mädchen umher. Sie alle haben ein gemeinsames Ziel und das ist nah. Es ist die Schule im Dorf Soanihasina.

Wobei das Wort Schule wohl ein falsches Bild vermittelt. Vor einem kleinen weißgetünchten Häuschen wartet schon Frau Marie Josephine, die Lehrerin. Von acht Uhr in der Früh bis um elf unterrichtet sie dort in der einzigen Klasse zwanzig Mädchen und Buben. Am Nachmittag von eins bis vier ist die zweite Gruppe von Kindern dran. Wie immer startet der Unterricht mit einem Gebet, bei dem die Kinder Gott danken, dass sie hier sein dürfen, und um den Segen für die Frau Lehrerin, sich und ihre Familien bitten. Bald darauf wird gerechnet und geschrieben, gesprochen und gelernt. Frau Marie Josephine braucht nur eine Frage zu stellen und schon schnellen die Arme der Kinder nach oben. Will sie wissen, wer an der Tafel etwas vorrechnen möchte, kann sie sich vor Freiwilligen kaum retten. „So ist das immer“, sagt sie später in der Pause und schmunzelt: „Die Kleinen sind sehr wissbegierig. So wie der Schwamm an der Tafel saugen sie alles auf.“ Dabei ist das Ziel für die nächsten Monate eine ausgemachte Sache: Bis zum Ende des ersten Schuljahres sollen alle Kinder lesen, schreiben und rechnen können, was bei so viel Tatendrang nicht schwerfallen dürfte.

So gewöhnlich das Leben in der Schule scheint, so außergewöhnlich ist es in Wirklichkeit. Denn Soanihasina wäre wie die meisten anderen Dörfer in der Umgebung viel zu klein, als dass der ohnedies marode Staat hier eine Schule aufsperren würde. Die nächste öffentliche liegt viele Kilometer entfernt und ist wegen der schlechten Wege nur nach einem langen Fußmarsch zu erreichen. Für Marcel und die anderen Kinder wäre das viel zu weit und auch zu gefährlich, um dort alleine jeden Tag hinzugehen. Für sie wäre es daher so gekommen wie für viele andere Kinder auf Madagaskar: Ihre Schulkarriere hätte geendet, bevor sie überhaupt begonnen hat.

Clara blieb nur die Oma

Nun aber stapfen die Kinder gegen Mittag in der Gruppe zurück in ihre Dörfer in der Nähe. Neben Marcel marschiert Clara, die vorhin eine der Eifrigsten beim Aufzeigen war.

An einer Weggabelung biegt sie ab und läuft auf eines der typischen madagassischen Häuser zu. Diese sind hoch gebaut: Unten, gleich beim Eingang, lebt das Vieh, oft ein Schwein, eine Kuh oder mehrere Hühner. Über eine Leiter geht es hinauf in einen Wohnraum, in dem es wärmer ist. Und ganz oben, gleich unter dem Dach, befindet sich die Rauchküche.

Clara herzt und umarmt ihre Oma, die schon auf sie gewartet hat. Bei ihr wächst sie auf, seit ihre Eltern vor drei Jahren wegziehen mussten, weil sie im Dorf kein Auslangen fanden.

„Es war schrecklich“, erinnert sich Tuvo, der Vater, der jetzt auf Besuch da ist: „Du gelangst hier an kein Geld, um Essen zu kaufen. Die Felder sind winzig, werden immer wieder geteilt und werfen kaum etwas ab. Also standen meine Frau und ich vor der schwersten Entscheidung unseres Lebens: hier elendig zugrunde gehen und auch unserer Kleinen nichts bieten zu können oder wegziehen und sie bei der Oma zurücklassen.“ Und so gingen sie. Tuvo, der Vater, arbeitet nun in der fernen Hauptstadt als Koch. Ramara, Claras Mutter, hilft einer reichen Familie dort im Haushalt. Ihre Kleine sehen sie nur einmal im Jahr, wenn sie für ein paar Wochen in ihr Dorf zurückkehren.

„Ich bin froh, dass es bei uns anders ist“, sagt später Marcel, als er daheim angelangt ist. Auch bei ihm geht es, an einem Schwein vorbei, über eine Leiter nach oben. Dort hat Jeanne, seine Mama, eigens für die Besucher aus Europa aufgekocht. Sie bittet, auf einem Stück Teppich Platz zu nehmen, der nur zu besonderen Anlässen hervorgeholt wird. „Gottes Macht ist grenzenlos“, steht darin eingestickt und die Familie betet vor dem gemeinsamen Mahl. Es gibt Süßkartoffel, Reis und Bohnen, was in seiner Üppigkeit schon einer Festspeise gleicht. Dazu noch Hühnerfleisch, das sonst nur zu Weihnachten gereicht wird – und das auch nur, falls zuvor die Ernte halbwegs gut ausgefallen ist.

Als der Hunger kam

Jeanne und ihr Mann Jean-Claude bewirtschaften wie alle im Dorf ein Stück Acker vor ihrem Haus und bauen darauf Bohnen und Kartoffeln an. Da nur die Ältesten Land erben, haben sie ihren Grund pachten müssen, was die Einkünfte schmälert. „Die letzten Jahre waren sehr hart“, gesteht dann auch Jeanne: „Eigentlich sollten wir zweimal im Jahr ernten, immer im März und im Juli, aber es regnet immer weniger und wenn doch, dann gleich in Sturzbächen, was auch nicht gut ist. So schrumpfte die Ernte immer weiter zusammen und wir verdienten mit dem Verkauf der Bohnen auf dem Markt in der Stadt kaum noch etwas.“ Zweimal in der Woche schleppt sich das Paar schwerbeladen über den langen Weg dorthin. Früher noch, als sie mehr ernteten, konnten sie einen Teil der Bohnen erst einlagern und später, wenn die Nachfrage größer war, zu einem höheren Preis verkaufen. Plötzlich aber musste alles gleich raus, um überhaupt an Geld zu gelangen. Als gar nichts mehr ging, nahmen die Eltern Marcels älteren Bruder und die Schwester von der staatlichen Schule, damit sie am Feld und auf dem Markt mitanpacken konnten, um das Überleben der Familie zu sichern.

Ein Dorf blüht auf

Doch seit einiger Zeit ist alles anders. Und das hängt wiederum mit der Schule zusammen, aus der Marcel gerade gekommen ist. Sie stand am Anfang einer noch viel größeren Veränderung.
„Was, wenn nicht die Kinder zur Schule gehen, sondern die Schule zu den Kindern kommt?“, fragte sich im Jahr 1996 ein Missionar aus Frankreich, der das Hochland bereits gut kannte: „Und was, wenn sich dadurch ganze Dörfer zum Positiven verändern ließen?“ Der Missionar, Pater Boltz aus dem Elsass, gründete Vozama. Das Wort setzt sich zusammen aus den ersten zwei Buchstaben des Satzes „Madagaskars Kinder haben eine Zukunft“ – und diese Zukunft sollte gerade in den entlegenen Dörfern nicht daran scheitern, dass die Kinder nicht einmal lesen und schreiben können. Knapp dreißig Jahre später ist die Bilanz von Vozama überwältigend: 674 Vorschulen sind seither in den Dörfern des Hochlands entstanden. 11.700 Kinder wie Clara und Marcel lernen darin nun lesen, schreiben und rechnen. Nach zwei Jahren sind sie ausgebildet und alt genug, um die Strecke zur öffentlichen Schule allein anzutreten. Erstmals zeichnet sich so ein Ausweg aus der Armut ihrer Eltern ab. Und die Dörfer profitieren gleich doppelt. Denn mit der Schule kommt auch die Verantwortung, sie zu erhalten. Die Gemeinschaft legt zusammen, um die Löhne des Lehrpersonals mitzufinanzieren. Gelingt das, hilft Vozama mit einem Brunnen. Kinder und Frauen müssen so nicht länger stundenlang Wasser von einem Fluss hochschleppen. Die freiwerdende Zeit ermöglicht den Schulbesuch. Und aus einem vergessenen Dorf am Ende der Welt wird plötzlich ein Ort mit Zukunft.

Motor der Veränderung

„Wichtig dabei ist, dass der Wille zur Veränderung aus dem Dorf selbst kommt“, sagt Taratra Rakotomamonjy, die heute Vozama leitet: „Es sind nicht wir, die eine Schule bauen, sondern die Gemeinschaft, die ein bestehendes Haus dafür adaptiert. So erst entsteht das Gefühl für Verantwortung.“ Nach und nach, erzählt sie, würden sich die Dinge langsam zum Besseren verändern. In Kursen erfahren die Familien viel über Hygiene, aber auch, wie sich durch Kompost und Bio-Dünger die Ernten steigern lassen. Je länger Taratra erzählt, desto mehr merkt man ihr die Managerin an, die einst aus Madagaskar aufbrach, um in Frankreich zu studieren, dann aber beschloss, in ihre Heimat zurückzukehren, um dort etwas zu schaffen, was nachhaltige Veränderung bringt. „Geschieht nämlich nichts, potenzieren sich hier alle Probleme, die wir auf der Insel haben: die Abholzung unserer Wälder, die Folgen des Klimawandels, die ausbleibende Bildung, die jede Hoffnung nimmt. Es stimmt schon: Das alles sind komplexe Entwicklungen, aber man muss oder darf sie nicht einfach nur hinnehmen. Unser Ansatz ist nicht darüber zu klagen, sondern aktiv etwas dagegen zu unternehmen.“

Und so formt sich ein Bild beim Blick hinaus auf die „Route Nationale“ Nummer 7, als es wieder hoch in Richtung Hauptstadt geht: All die schwer schuftenden Menschen, all die Plagerei, all die Not – es gab sie auch im Dorf von Clara und Marcel. Den Menschen dort erging es wie dem Hamster, der sich wundert, warum sich sein Laufrad immer schneller dreht, und der drohte, irgendwann nur noch erschöpft rauszufallen. Solange, bis jemand einen Motor daran montierte und sich all die Mühsal plötzlich doppelt und dreifach auszuzahlen begann. Es braucht ihn, diesen Motor, diesen Anschub und mit ihm denjenigen, der ihn installiert und am Laufen hält.

Ein EMIL für VOZAMA

Vozama ist ein langjähriger Partner von Missio Österreich auf Madagaskar. Dessen Direktorin Taratra Rakotomamonjy wird für ihr Wirken ausgezeichnet.

Am 7. November verleiht ihr Missio einen Austria.On.Mission-Award: Der Emil, ein Esel aus Bronze, soll an die biblische Symbolik dieses Lastentiers, das Jesus trug, erinnern. Ihn erhalten Menschen, die oft im Stillen missionarisch wirken.

 

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