Die Rückkehr ins Lepradorf

Zwölf Jahre lang wirkten Elisabeth und Enzo Caruso als Laien-Missionare auf Madagaskar. Gemeinsam mit den Einheimischen erlebte das Wiener Ehepaar Armut, Pein, Krankheiten und Katastrophen. Zuletzt machten sie aus einem gemiedenen, schmutzigen Ort ein Dorf der Würde. Nun kehren sie dorthin zurück.

Text: Christoph Lehermayr Fotos: Simon Kupferschmied
18 min Lesedauer

Ein mulmiges Gefühl. Die Carusos sitzen in einem Minibus, der über eine Straße voller Schlaglöcher hinauf in die Berge fährt. Was wird wohl aus Ilena geworden sein, fragen sie sich? Das Lepradorf im Hochland von Madagaskar hat dem Missionarsehepaar aus Österreich einst alles abverlangt. Als sie im Jahr 2005 das erste Mal dort hingelangten, bot sich ihnen ein furchtbarer Anblick. Elisabeth Caruso erinnert sich: „Viele verwahrloste Kinder liefen um die halb verfallenen Hütten herum. Dreck und übelriechende Exkremente waren überall zu sehen. Die Unterkünfte der Kranken waren schwarze, vermoderte Löcher, wo es durch die kaputten Dächer hineinregnete. Die offenen Wunden der Leprakranken waren schon monatelang nicht mehr versorgt worden. Die so genannte ‚Ambulanz‘ war voll mit Gerümpel – von Medikamenten keine Spur, und als Verbandsmaterial lag nur eine Nierenschale mit einer Pinzette und zwei schmutzigen, blutigen Tupfern herum.“

Auf nach Madagaskar!

Was die in Salzburg geborene Elisabeth Caruso da beschreibt, hätte wohl die meisten Menschen rasch die Flucht ergreifen lassen. Nicht aber sie und ihren Mann Enzo. Die beiden hatten 1977 geheiratet und als diplomierte Krankenpfleger an der Klinik im Wiener Stadtteil Lainz gearbeitet. Nicht weit davon entfernt wohnten sie in einem schönen Haus mit Garten. Als die Carusos in Pension gingen, hätte ein sorgenfreier Ruhestand vor dem kinderlos gebliebenen Ehepaar liegen können. Doch Kaffeekränzchen und Seniorenrunden schienen das Gegenteil dessen, wonach sie sich sehnten. Schon in seiner aktiven Zeit war Enzo ehrenamtlich in der Krankenhausseelsorge tätig gewesen und hatte so Verbindungen zum Orden der Kamillianer geknüpft. „Das Ideal des Heiligen Kamillus entsprach dem, was wir suchten: Christus in den Kranken und Leidenden zu dienen“, sagt Elisabeth: „Dieses Ideal gibt unserem Leben bis heute Sinn.“ Die Carusos vermachten also ihr Haus den Kamillianern und brachen auf zu einer langen Reise, die viele wohl eher als fortgesetzte Form von Tortur empfunden hätten.

Nach einem ersten Stopp in Benin gelangten sie nach Madagaskar, die große Insel vor der Ostküste Afrikas. Doch von makellos weißen Stränden, lustig herumhüpfenden Lemuren und dem Postkartenidyll, welches das touristische Image der Insel prägt, blieben sie weit entfernt. Stattdessen verschlug es sie in die entlegenen Dörfer des Hochlands.

Dort hausten sie selbst oft in elenden Hütten, gingen aber voll auf in ihrem Dienst an den Kranken, um die sich sonst keiner kümmerte. Denn Madagaskar zählt abseits seiner touristischen Hotspots an der Küste zu den ärmsten Ländern der Welt. Fortan querten die Carusos Flüsse voller Krokodile, trotzten Katastrophen wie Zyklonen und lebten in aller Kargheit genau so, wie es die Einheimischen tun. Deren Sprache, das Madagassisch, hatten sie sich längst angeeignet. Deren Glaube, formell zwar meist christlich, aber mit viel Ahnenkult angereichert, verlangte nach Orientierung. So halfen die Carusos untertags den Menschen in einem Alltag der Entsagungen, richteten Ambulanzen ein und ließen Brunnen bohren. Abends jedoch hielt Enzo Katechese und sorgte so für geistliche Nahrung. Ein Zugang, den die beiden auch für Ilena wählen wollten, das von allen gemiedene Dorf der Leprakranken. Dort draußen bei den Ausgestoßenen und Aussätzigen sollte sie ihre größte Bewährungsprobe erwarten.

Trunkenbolde und Taugenichtse

Jetzt, da der Minibus seine letzte Kurve nach Ilena nimmt, sind 17 Jahre seit ihrem Abschied aus dem Dorf vergangen. Die Carusos sind schon über 80, aber rüstig genug, die beschwerliche Reise vielleicht für ein letztes Mal anzutreten. Aus dem Fenster sieht Enzo, dass auf dem Platz vor dem Kirchlein bereits ein kleines Empfangskomitee auf sie wartet. Kaum ausgestiegen, umarmen zwei Ordensschwestern die Carusos. „Seid willkommen“, heißt es voll Freude, aber auch Ehrfurcht über die Rückkehr. Bald umringt eine Gruppe Älterer die beiden. „Enzo!“, ruft ein Mann und fällt ihm in die Arme. Bei genauerem Hinsehen wird klar, dass es die Leprakranken sind, die nichts von dem vergessen haben, was er einst für sie tat.

Als Taugenichtse und Trunkenbolde verschrien, hausten sie damals im größten Elend. In ihren Hütten stank es erbärmlich. Ihre bis auf die Knochen faulenden Wunden blieben unversorgt. In der Nacht nagten Ratten daran und da die Nerven-Enden abgestorben waren, spürten die Menschen dies nicht einmal. Wegen all des Mülls hatten die Ratten längst Besitz vom Dorf genommen. Gefangen in ihrer Lethargie stießen die Bemühungen der Carusos, in Ilena aufzuräumen, bei den Menschen anfangs auf Gleichgültigkeit. „Also stellte ich mich vor sie“, erinnert sich Enzo, „und sagte mit freundlicher Stimme: ‚Wir freuen uns, es mit freien Leuten zu tun zu haben, die tun, was sie wollen und nicht tun, was sie nicht wollen. Genauso sind auch wir aus freiem Willen gekommen, um euch zu helfen, aber nur unter der Bedingung, dass auch ihr euren Beitrag leistet. Nun euer Beitrag ist, dass der krankmachende Schmutz weggeschafft wird. Wenn ihr damit einverstanden seid, gibt es heute Nachmittag bei der Austeilung zum Reis auch wieder Öl, Seifen, Salz und Zucker dazu.‘“ Schon Stunden später stiegen erste Rauchsäulen auf und der Müll verschwand im Feuer.

Ilenas Auferstehung

„Mit unserer ‚Gscheitheit‘ im Westen kommt man auf Madagaskar nicht weit“, sagt Elisabeth Caruso, „da braucht es andere Wege.“ Dank treuer Spender in der Heimat, besonders den Wiener Pfarren in Altmannsdorf und Altsimmering, konnten die Carusos bis dahin Unvorstellbares umsetzen. Sie gingen daran, die dreckigen Löcher, in denen die Leute leben mussten, zu renovieren. Auf den Fotos von damals wirken die hergerichteten, in Weiß getünchten Häuser mit ihren türkisen Türen plötzlich wie aus einem Touristenkatalog. Bang sind also die Blicke, als die Carusos mit den Schwestern im Schlepptau die Gasse zu diesen Häusern hinuntergehen. Wird auch jetzt, fast zwei Jahrzehnte später, noch alles so in Schuss sein, wie sie es zurückließen?

Man merkt dem Paar die Freude an, als es seine Blicke schweifen lässt und feststellt, dass sein Werk Bestand gehabt hat.

Gleich bitten die Menschen die Carusos herein und zeigen mit Stolz die aufgeräumten Stuben. Was damals geschah, folgte keinem Plan, der in weit entfernten, klimatisierten Büros internationaler Hilfsorganisationen ausgearbeitet und von teuer bezahlten Experten vor Ort umgesetzt worden wäre. Vielmehr war es ein übernatürliches Wirken, das hier seinen Ausgang nahm. Die Kraft ihres Glaubens ließ die Carusos über sich hinauswachsen. Sie trotzten dem Typhus und der Lepra, die schließlich auch Enzo erfasst hatte. Sie blieben, selbst als Zyklone über die Insel zogen und alles vernichteten. Sie hielten trotz aller Rückschläge an den Menschen fest, pflegten und kümmerten sich um sie, nahmen sie als ihresgleichen wahr und begegneten ihnen auf Augenhöhe. Waren die Bewohner von Ilena zuvor ihr Leben lang nur beschimpft und verachtet worden, spürten sie, wie etwas Größeres, Tieferes und Mächtigeres sich ihrer annahm – und die Carusos waren dessen Werkzeuge.

Von „weißen Elefanten“ …

Du kannst einem Menschen wohl ein neues Haus bauen, ihm einen Brunnen mit sauberem Wasser graben, seine Wunden medizinisch fein säuberlich versorgen und das alles als Erfolg vorbildlich geplanter Entwicklungszusammenarbeit verbuchen. Diesem Menschen aber seine Würde zurückzugeben, dafür zu sorgen, dass er sich in seinem Denken und Tun nachhaltig und dauerhaft zum Besseren wandelt, ist umso viel größer, ja grandioser, dass es sich nicht mit den uns bekannten Schablonen erklären lässt. Genau das aber ist in Ilena damals geschehen. Und es hat bis heute Bestand: Die Häuser sind blitzblank, die Ambulanz ist in Betrieb, ja selbst aus dem Brunnen, den die Carusos bauten, wird Tag für Tag sauberes Wasser geschöpft. Nichts, was das Paar einst anfing, ist später zu einem „weißen Elefanten“ geworden, wie man in NGO-Kreisen nachträglich gescheiterte Investitionen nennt.

„Aber jetzt kommt doch mit hoch zur Schule“, sagt Schwester Annicette Hermina und hängt sich bei Enzo ein. Sie ist die Oberin der Gemeinschaft der Göttlichen Vorsehung, die nach den Carusos die Obhut über Ilena übernommen hat. Zu ihrem anfänglichen Respekt vor der Aufbauarbeit der Österreicher hat sich nun eine ansteckende Fröhlichkeit gesellt. Die Schule ist das Werk der Schwestern, zu dem die Carusos den Grundstein gelegt hatten. Bevor sie gingen, hatten sie nach Jahren ohne Unterricht wieder vier Klassen für die Kinder des Dorfes geschaffen. Jetzt führt Schwester Annicette Hermina durch ein noch weit größeres Gebäude, in dem in jedem Raum fein herausgeputzte Kinder sitzen. Das ist eine Seltenheit auf Madagaskar, wo sich die Armut zuerst bei den Kleinsten zeigt, die in den meisten Dörfern nur in Lumpen gehüllt umherlaufen. 468 Schülerinnen und Schüler werden von den Schwestern der Göttlichen Vorsehung hier unterrichtet. Nur ein Fünftel davon stammt aus Ilena selbst. Die anderen kommen aus oft weit entfernt liegenden Dörfern. Ihre Eltern schicken sie auf den langen Weg, damit sie die Grund- und Mittelschule mit dem guten Ruf besuchen können. Aus Ilena, dem einst gemiedenen und verschrienen Dorf der Leprakranken, ist ein renommierter Schulstandort geworden.

Aufbruch und Abschied

Damals das Dorf zu verlassen, war den Carusos alles andere als leichtgefallen. Zu ungewiss schien, wie es nach ihnen wohl weitergehen würde. „In jenem Zustand, in dem ihr Ilena einst übernommen habt, hätten unsere Oberen nie eingewilligt, die Schwestern hierherzuschicken“, vertraute ihnen eine dieser Schwestern damals an. Gemeinsam blättern sie jetzt, so viele Jahre später, in den Fotoalben, die Schwester Annicette Hermina vorbereitet hat. Sie zeigen Bilder von ganz früher, aus denen der Schmutz und die Verwahrlosung förmlich herausriechen. Dann sind da die Aufnahmen mit den Carusos, die alles veränderten und schließlich jene der Schwestern, welche das Werk fortsetzten. In all ihrer Bescheidenheit sind die Carusos fast beschämt, als sie von den Schwestern kleine Geschenke überreicht bekommen und sie nach dem Mittagessen ein gemeinsames Lied anstimmen. Es sind Momente der Ausgelassenheit und der Fröhlichkeit, voll des Dankes und der Anerkennung für das Geleistete. Schließlich ist es Enzo, der sagt: „Das Los der Missionare ist es, vorzubereiten – und zu übergeben, wenn der Boden bestellt ist.“

Als sich ganz Ilena in der Kirche zur gemeinsamen Messe versammelt, kristallisiert sich diese Erkenntnis beim Blick auf das Allerheiligste. Enzo hat einmal gesagt, dass für ihn das Verbinden der Wunden der Leprakranken fast wie eine Anbetungsstunde gewesen sei. Man muss diesen Satz erst einmal sacken lassen, um seine ganze Tragweite zu begreifen. 15 Jahre Afrika, davon zwölf auf Madagaskar. Und dabei immer im Dienst des Herrn. „Diese Erfahrung hat uns im Glauben wachsen und auch verstehen lassen, warum wir zusammen sind“, sagt Elisabeth, „Jesus war dabei immer an unserer Seite.“ Und so gelang etwas Einzigartiges, das über die irdische Präsenz der beiden hinausreicht, das weiterwächst, gedeiht und das Früchte trägt. Gestern, heute und morgen.

Ein Missionsabenteuer

Wäre es nach den Carusos gegangen, hätte ihr Buch nie das Licht der Welt erblickt. Das bescheidene Paar vermied großes Aufsehen um sein Wirken. Doch die Erfahrung aus  15 Jahren Missionsarbeit in Afrika sollte nicht verlorengehen, weshalb Missio-Nationaldirektor Pater Karl Wallner nicht locker ließ und die beiden seinem Drängen schließlich nachgaben. Mit „Lepra, Ahnenglaube und Krokodile – Unsere Mission für Jesus in Afrika“ (beziehbar im Shop von Missio Österreich) entstand ein einzigartiges Werk über Abenteuer und Leid, Freude und Entsagung, getragen von einem tiefen Glauben an Gott.

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