Die Löwin von Lahore

Verfolgt, vergewaltigt und zum Konvertieren gezwungen. Das kaum bekannte Leid von Pakistans Christen empört. Die Opfer von Gewalt und Diskriminierung wären völlig hilflos, gäbe es da nicht jemanden, der für sie kämpft. Was folgt, ist die Geschichte einer Furchtlosen.

Text: Christoph Lehermayr Fotos: Simon Kupferschmied
19 min Lesedauer

Reportage zum Anhören: Die Löwin von Lahore

Katherine Sapna blickt angestrengt auf die Papiere am Tisch. Sie überfliegt die ersten Zeilen, stockt an manchen Stellen und kritzelt Notizen an den Rand. Sie ist 43, hat langes, rostbraunes Haar und trägt einen bunten Sari. Nach einer Weile packt sie das Dossier mit einigen der Fälle, die ihr Leben bestimmen, in eine Tasche. Keiner ihrer Tage ist gleich. Selten weiß sie am Morgen, was sie erwartet, wer anruft, wohin sie fährt und, ob ihr dort Gefahr droht. Gewiss ist nur, dass es sie herausfordern wird: Als Frau, als Christin, und als Mensch, der an das Gute im Anderen glaubt.

Eine Warnung am Beginn

Am Anfang dieser Geschichte muss eine Warnung stehen. Was Sie in diesem Text lesen werden, erschüttert, irritiert und empört. Es sind Schilderungen, die sich kaum jemand von uns auch nur vorzustellen vermag. Und trotzdem geschieht es. In Pakistan, einem Land, das für viele fern und fremd wirkt, und aus dem vielleicht gerade deshalb wenig über das nach draußen dringt, was die christliche Minderheit dort zu erdulden hat. Es zu ignorieren, wegzuschauen und zu verschweigen, hieße aber, die Augen vor den Opfern zu verschließen. Gerade diese erzählen nun ihre Geschichten. Selbst wenn es ihnen alles andere als leichtfällt. Die Menschen, die wegen ihres Glaubens leiden, zeigen dabei ihre Gesichter. Sie tun das aus einem einzigen Grund: damit wir sie sehen.

Und so blicken wir auf Allah Dittah – einen der Männer aus Katherine Sapnas Akten. Was darin kühl und nüchtern geschildert wird, gleicht in Wahrheit einem unfassbaren Drama. Der kräftige Mann lebt mit seiner Frau und den fünf Kindern in einem Dorf im fruchtbaren Pandschab, 50 Kilometer westlich der Millionenmetropole Lahore. Wie so oft in Pakistan, bilden die 600 christlichen Familien dort eine Gemeinschaft am Rande des Dorfes, die etwas abseits der muslimischen Mehrheit ihre Häuser hat. Die meisten der Christinnen und Christen stehen in Pakistan auf der untersten Sprosse der Gesellschaftsleiter. „Die Ausgrenzung über Generationen hinweg hat sie schwach gemacht“, erklärt Katherine Sapna, „sie sind häufig Analphabeten und arm, haben kaum Chancen auf gute Jobs und arbeiten so in Ziegeleien, als Putzpersonal, Straßenkehrer oder einfache Bedienstete.“

Trotzdem gelingt es Allah Dittah und den Seinen, ein Auskommen zu finden. Das weckt die Begehrlichkeiten der muslimischen Nachbarn. Ein einflussreicher Grundbesitzer versucht seit langem, an die Grundstücke der Christen zu gelangen. Er übt Druck aus, terrorisiert sie und setzt alles daran, sie zu vertreiben. Bis es einem Verwandten von Allah Dittah reicht. Er geht zu Gericht und verklagt den Großgrundbesitzer. Als der davon erfährt, ist der Verwandte bereits abgetaucht, weil er ahnt, dass seine Klage einem Todesurteil gleichkommt.

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Christen im Fadenkreuz

Voller Zorn taucht der Großgrundbesitzer bei Allah Dittah auf. Der solle ihm sofort das Versteck seines Verwandten verraten, sonst würde er selbst teuer dafür bezahlen, droht ihm der mächtige Muslim. Schon Tage später, im Juni 2020, stürmt ein Schlägertrupp von 50 Männern in Allah Dittahs Haus. Sie haben Holzstangen und Pistolen und prügeln auf den Mann und seine Familie ein. Am schwersten verletzt wird dabei Allah Dittahs Ehefrau. Doch der Mob riegelt die Siedlung der Christen ab. Niemand soll von dem Überfall erfahren und keiner der Verletzten in ein Krankenhaus gelangen. Am dritten Tag erliegt die Ehefrau und Mutter der fünf Kinder ihren Verletzungen. Drei Wochen später holt die Polizei Allah Dittah und seine zwei Söhne ab. Sie seien festgenommen, heißt es, da sie den Großgrundbesitzer angegriffen und verletzt hätten und er sie anzeigte. So verwirrend und abwegig das klingt, so typisch ist das doch, sagt Katherine Sapna nun: „Der eine ist schwach und Christ, der andere mächtig und Muslim. Die Polizei ist oft voreingenommen und glaubt dem Mächtigen. Und sollte sie zweifeln, hilft der mit Geld nach.“ Als Allah Dittah mit seinen Söhnen in einer überfüllten Zelle kauert, erfährt Sapna erstmals von dem Fall und tritt auf den Plan. Beendet ist die Geschichte damit längst nicht.

Verschaffe dem Armen Recht

Schon früh in ihrem Leben begegnete Katherine Sapna solch ohnmächtigen Opfern der „islamischen Republik“. Nach ihrem Studium besuchte sie als Mitglied der Menschenrechtskommission Pakistans Gefängnisse und war schockiert. „Wie im Fall von Allah Dittah sind falsche Anschuldigungen und konstruierte Verfahren häufig. Werden Christen erst einmal eingesperrt, sind die an sich schon katastrophalen Haftbedingungen für sie noch schlimmer. Ihr Essen ist schlechter, die Hygiene verheerender und oft schlagen die Wärter sie. Sie sind dem allen vollkommen schutzlos ausgeliefert, weil ihnen sowohl Geld für einen Anwalt fehlt, als auch die Courage, sich zu wehren.“

Dem stellte sich Katherine Sapna entgegen. Sie sammelte Anwälte um sich, beriet sich und setzte den entscheidenden Schritt. Sie gründete „Christians’ True Spirit“ (CTS), den Verein des wahren christlichen Geistes, der fortan kostenlos an der Seite der Schwächsten steht. „In der Bibel heißt es: Öffne deinen Mund für den Stummen, für das Recht aller Schwachen! Richte gerecht, verschaffe dem Bedürftigen und Armen Recht! (Buch der Sprichwörter 31:8-9)“, sagt Sapna, „und genau das ist unser Credo.“ Im Fall von Allah Dittah führt es dazu, dass es Sapnas Juristenteam gelingt, den Witwer und seine Söhne auf Kaution freizubringen. Doch der Großgrundbesitzer gibt sich nicht geschlagen. Nur drei Monate später lässt er einen von Allah Dittahs Söhnen entführen. Der Bub wird in ein abgelegenes Haus verschleppt und dort eine Woche lang gefoltert. Erst in einem unbeobachteten Moment gelingt ihm die Flucht. Nun ist klar, dass die Familie nicht länger in dem Dorf bleiben kann. Sapna lässt sie in ein Schutzhaus von CTS bringen, wo sie endlich sicher sein sollen, während ihr Verfahren vor Gericht weiterläuft.

Dem radikalen Mob ausgeliefert

Wenn Katherine Sapna vor der rosa gestrichenen Wand ihres Büros sitzt und einige der 62 Fälle studiert, die sie und ihr Team allein im ersten Halbjahr beschäftigten, offenbart sich die Schutzlosigkeit der christlichen Minderheit in besonderem Maße. Da ist etwa der Akt des Ziegelarbeiters Abbas Masih. Ein falsches Wort von einem seiner Söhne reichte aus, um ins Fadenkreuz zu geraten. Wie so oft, fand sich auch dort rasch ein Mob aufgebrachter Muslime, die mit Stöcken auf die Familie losgingen, sie verprügelten und danach flohen. „All das geschieht, weil Christen als Bürger zweiter, ja wenn nicht sogar dritter Klasse gelten, die arm sind, schmutzig und sich alles gefallen lassen müssen.“ Die Anwälte von CTS setzen nun alles daran, die Gewalttäter vor Gericht zu bringen.

Dort stoßen sie nicht selten auf eine ihnen feindselige Atmosphäre. Gerade wenn es um §295-C des pakistanischen Strafgesetzes geht: Wer durch Worte oder Taten, direkt oder indirekt, den Namen des Heiligen Propheten besudle, soll mit dem Tod oder lebenslanger Haft bestraft werden, heißt es darin. Ein solches Blasphemie-Gesetz öffnet Tür und Tor für falsche Anschuldigungen gegen religiöse Minderheiten, aber auch Muslime selbst und verdeutlicht die Radikalisierung des Landes. Kam es deswegen in den 58 Jahren zwischen 1927 und 1985 gerade einmal zu zehn Anklagen, explodierte die Zahl seither auf über 4.000 Fälle. Jener der Christin Asia Bibi, die 2010 zum Tode verurteilt wurde, ging um die ganze Welt. Neun Jahre saß sie in einer Todeszelle. Erst massiver internationaler Protest führte zu ihrer Enthaftung. „Traurig ist nur, dass es viele Asia Bibis in unserem Land gibt, von denen noch nie jemand gehört hat“, sagt Katherine Sapna und verweist auf den Fall eines Schneiders, für den sie und ihr Team kämpfen: „Der arme Mann wollte nur seiner Tochter helfen, die nicht ganz freiwillig zum Islam konvertiert war und gegen den sich nun, seit die Tochter ihren Schritt bereut, die Wut der ganzen muslimischen Familie richtet. Der Mann sitzt seit einem Jahr ein. Während wir drinnen vor Gericht für seine Freilassung argumentieren, fordern draußen auf den Straßen Tausende Radikale seinen Kopf.“ So gerät Lynchjustiz zur Realität. Noch bevor das Gericht ein Urteil über sie sprechen konnte, wurden seit den 1990er-Jahren mindestens 62 Angeklagte von Islamisten ermordet. Der politische Islam prägt Pakistans Bild auf der Straße. Und er macht selbst der sonst so furchtlosen Katherine Sapna Angst. Nicht nur einmal mussten sie und ihre Kollegen aus dem Gericht durch einen Hinterausgang fliehen, weil draußen der Mob die „Köpfe der Anwälte dieser Ungläubigen“ forderte.

Eine Löwin lässt nicht locker

Nichts aber erschüttert Katherine Sapna mehr, als wenn sich die Gewalt gegen Frauen und Kinder richtet. Die Reports, die sie an ihre Partner in Europa schickt, zu denen auch Missio Österreich zählt, sind voll von Schicksalen, die sich in ihrer Brutalität und Kaltblütigkeit an dieser Stelle erst gar nicht schildern lassen. Viele der Fälle lassen einem den Atem stocken. Christliche Mädchen und Frauen werden darin gekidnappt und entführt, vergewaltigt und gequält, und gezwungen, zum Islam zu konvertieren. Oft werden sie über Wochen oder gar Monate an geheimen Orten missbraucht und am Ende weggeworfen, so als seien sie Waren, die ihr Ablaufdatum überschritten hätten.

Der Pfad zurück ins Leben

„Diese Frauen werden geschändet, weil sie Christinnen sind, weil sie als wertlos gelten und weil die muslimischen Täter lange keine Angst haben mussten, für ihre Straftaten büßen zu müssen“, sagt Sapna. Sie kennt all diese Frauen persönlich, fuhr hinaus zu den Lehmhütten, in denen sie lebten, stand im Spital am Krankenbett und hielt ihre Hand, als ihre Wunden heilten. Später bringt sie etliche von ihnen in die Notunterkunft von CTS, weil sie nur dort sicher sind vor weiterer Gewalt und der Rache ihrer Peiniger. Es sind diese Momente, in denen Katherine Sapna zur Löwin wird. Etwa wenn sie Anum umarmt, ein achtjähriges Mädchen, dem Grausamstes angetan wurde. Oder Areeba, die erst sieben war, als man sie kidnappte. Zurück in Lahore, besucht Sapna eine 17-Jährige namens Sheeza, die mit Dutzenden anderen Mädchen im Schutzhaus von CTS lebt. Eine Heimkehr zu dem Ort, an dem sich Männer über Monate hinweg an ihr vergingen, käme bis heute ihrem Todesurteil gleich. „Die Geschichten dieser Mädchen machen mich traurig und wütend zugleich. Sie lassen mich zur Kämpferin werden und wir tun alles, damit diese Verbrechen geahndet werden und die Botschaft klar wird, dass Christinnen kein Freiwild sind.“

Oft sitzt Sapna mit den Mädchen in der Notunterkunft zusammen, tröstet sie und betet gemeinsam mit ihnen. „Jesus zeigte uns vor, dass Hoffnung und Heilung keine leeren Worte bleiben und sich selbst für die völlig Gebrochenen ein Pfad zurück ins Leben findet.“ Katherine Sapna sagt das mit ihrer sanften Stimme, in der zugleich so viel Stärke liegt. Aus ihrem Glauben schöpft sie die Kraft, ihrem archaischen Umfeld zu trotzen, all den Drohungen, der Gewalt, den musternden Blicken und den Abfälligkeiten, die Polizisten wie Richter ihr entgegenbringen. Nur eines wundert sie manchmal, wenn sie im Internet auf Nachrichtenseiten in Europa surft. Sie liest dort dann über allerlei Solidarität mit den Anliegen von Muslimen in der Welt. Bloß zum Leid der Christinnen in ihrer Heimat Pakistan fand sie noch nie etwas. „Ganz so“, sagt Katherine Sapna, „als würde es uns gar nicht geben.

Ohnmächtige Minderheit

Pakistan ist laut der Stiftung Open Doors das fünftgefährlichste Land der Welt für Christinnen und Christen. Zwar garantiert die Verfassung der „islamischen Republik“ Religionsfreiheit, doch wird diese in der Praxis von Radikalen immer stärker untergraben. Alle Gesetze haben Scharia-konform zu sein und den drei bis vier Millionen Christinnen und Christen im Land bleibt die Teilhabe an der Justiz verwehrt.

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