Die dunkle Seite des schwarzen Tees
Der „Darjeeling“ ist der bekannteste und feinste Tee der Welt. Doch dahinter verbirgt sich eine bittere Geschichte. Sie spielt in Indien, an den Ausläufern des Himalayas, wo eine halbe Million Menschen vom Tee lebt – und eine ganz besondere Mission ihren Anfang nimmt.
Reportage zum Anhören: Die dunkle Seite des schwarzen Tees
Als die Sirene schrillt, sind die Nebelschwaden des Morgens verschwunden. Zuvor hatte Piyari noch im Dunkeln, nur im Schein einer kleinen Glühbirne, Frühstück für ihre Kinder gemacht. Wie jeden Tag hat sie dazu früher als die anderen das Nachtlager verlassen, auf dem die Familie gemeinsam schläft. Sie hat Wasser herbeigeschleppt und es mit dem Holz auf der Feuerstelle zum Kochen gebracht. Während ihre Familie weiter schlummerte, kehrte sie den Hof vor der Hütte, fütterte die Hasen im Stall und wusch Wäsche. Und jetzt, nachdem alle versorgt sind, schrillt die Sirene. Es ist 7 Uhr. Schichtbeginn.
Zwei Blätter und eine Knospe
Aus den Hütten, die der von Piyari gleichen, strömen die Frauen des Dorfes. Ihr gemeinsamer Marsch mutet militärisch an. Nach einer halben Stunde haben sie ihr Ziel erreicht: ein nicht enden wollendes Reich aus kräftigem Grün. Es ist Tee, der hier gedeiht. Auf Sträuchern, die den Frauen bis zur Hüfte reichen, und die sie in den folgenden Stunden fast wie ferngesteuert umkreisen werden. Bücken und pflücken. Immer und immer wieder. Jeweils „two leaves and a bud“, also zwei Blätter und eine Knospe, so wie es die britischen Kolonialherren schon vor 150 Jahren vorgesehen hatten. Und so bückt sich Piyari. Sie umfasst mit der Hand den frischen, hellgrünen Austrieb, trennt ihn von der Pflanze und wirft ihn in das Tuch, das an einem Band über ihrer Stirn befestigt ist. Mittags wird sie eine Stunde Pause machen. Dafür heimzugehen, lohnt sich nicht. Und dann erneut ein und dieselbe Bewegung wiederholen und wiederholen. Bis sie das Kreuz quält. Bis sie jede Sehne ihres Körpers spürt. Bis sie ihr Alter, das sie auf 45 Jahre schätzt, völlig vergessen hat. Bis der schwere Sack auf ihrem Buckel ein zweites Mal an diesem Tag gefüllt ist. 18 Kilogramm wird er mindestens wiegen müssen. Gut 30.000-mal wird sie sich dafür gebückt haben. Und 230 Rupien, umgerechnet 2,57 Euro, wird sie dafür an Lohn erhalten. Umgelegt auf ein Kilogramm, sind das 1,4 Prozent jenes Preises, für den der kostbare Tee später in Europa verkauft wird.
Dabei zweifelten die Briten einst, ob der Tee aus ihrer indischen Kronkolonie je zum Geschäft für sie würde. Das edle Getränk, das lange den obersten Schichten vorbehalten war, stammte damals vornehmlich noch aus China und unterlag einem Monopol. Um es zu brechen, griffen die Briten Mitte des 19. Jahrhunderts gar zur Waffe und zettelten die Opiumkriege an. Später ließen sie Teesamen aus China über die Grenze schmuggeln und begannen, selbst mit dem Anbau zu experimentieren. Nördlich ihrer damaligen Hauptstadt Kalkutta, an den Ausläufern des Himalaya-Gebirges, schienen die Bedingungen dafür ideal. Denn Tee verlangt nach dem richtigen Mix aus genug Sonne, viel Niederschlag und Temperaturen zwischen 18 und maximal 30 Grad. Rasch brach „ein verrücktes Fieber“ aus, wie es Edward Money, ein Zeitgenosse, beschrieb: „Der Preis einer Plantage wurde in kurzer Zeit auf das Acht- bis Zehnfache hochgetrieben“, und das oft von Besitzern, „die einen Teestrauch nicht von einem Kohlkopf unterscheiden konnten.“ In dem zuvor dünn besiedelten Gebiet heuerten die Briten Nepalesen als Arbeitskräfte an oder verschleppten diese gar dorthin. Sie und andere Bergvölker schienen ihnen am geeignetsten, die schwere Arbeit in den teils steilen Tee-Terrassen zu verrichten. Frauen als Pflückerinnen einzusetzen, war schon damals die bevorzugte Wahl, denn Männer seien laut dem Zeitgenossen „zu faul und zu unfähig“ für die Plagerei. Und so blieb es bis heute.
Piyari und die Pein
Als die Sirene erneut schrillt, ist es 17 Uhr und Piyari und ihre Leidensgenossinnen schleppen sich mit vollen Säcken zur Sammelstelle, wo sie diese ausleeren und abwiegen. Aufseher notieren, ob auch jede der Frauen ihr Plan-Soll von 18 Kilo erfüllt hat. Bis Piyari heimkommt, dämmert es bereits. Im Schein einer Kerze betet sie mit ihrer Familie, blickt auf Maria, Josef und das Jesuskind und dankt dem Herrn für den Tag. Wie alle Dorfbewohner, gehört auch Piyaris Familie einer ethnischen Minderheit in Indien an, von denen etliche katholisch sind. Nachdem sie Teigfladen zum Abendessen zubereitet hat, plaudert Piyari vor dem Schlafengehen noch ein wenig mit ihrem Mann. Er arbeitet in der nahen Fabrik. Dort werden die Teeblätter sofort nach der Ernte zum Welken aufgelegt, danach gerollt und fermentiert, wodurch grüner erst zu schwarzem Tee wird. Später folgt das Sieben, Trocknen und Verpacken. Und rasch darauf der Export nach Übersee. Denn Indien ist Tee-Großmacht und nach China der größte Produzent der Welt. Da Tee, und nicht etwa Kaffee, global das am häufigsten konsumierte Getränk ist – Österreich liegt mit einem Pro-Kopf-Verbrauch von 33 Litern pro Jahr im Mittelfeld – steckt dahinter ein lukratives Geschäft. Ein Geschäft, von dem wenig bleibt. Zumindest für Piyari und die etwa halbe Million Menschen, die im indischen Bundesstaat WestBengalen im Tee-Anbau schuften. Wenig ist ihr Lohn nicht nur aus europäischer Sicht, sondern auch für indische Verhältnisse, wo der Verdienst der Pflückerinnen laut Studien der niedrigste aller Berufsgruppen ist.
Zum „Champagner des Tees“
Wie bitter der Beigeschmack dieses feinen Getränks ist, wird klar, als es über Serpentinen hochgeht zum „Champagner unter den Teesorten“, dem Darjeeling. Arbeiten Piyari und die anderen weiter unten in einer Gegend, die Tee-Kennern als Dooars bekannt sein dürfte, verändert sich das Bild mit den Terrassen, die auf bis zu 2.000 Metern Seehöhe liegen. Steil steigt die einzige Straße dorthin an. Flauschig wie ein grüner Teppich stülpt sich der Tee über die Hänge dazwischen. Arg wirkt die Vorstellung, dass sich die Briten einst in Sänften hier hochtragen ließen, nur um der Hitzehölle ihrer Hauptstadt Kalkutta zu entkommen und dennoch über die „Unannehmlichkeiten“ dieses „barbarischen Transportmittels“ klagten – für sie selbst wohlweislich, nicht etwa ihre Träger. Also taten sie, worin sie auch in ihrer Heimat Vorreiter waren: Sie bauten eine Bahn. Hoch in den Himalaya. Der Rumpelzug fährt bis heute, schnauft sich unter Dampf Kilometer um Kilometer hoch, ist mittlerweile Touristenattraktion, Weltkulturerbe und dient auch, wofür er schon damals taugte: dem Abtransport des Tees.
Dieser gilt Kennern als der köstlichste der Welt. Fein im Aroma, in der frühesten Ernte, dem legendären „first flush“, „mild und blumig“. Später, nachdem neue Blätter und Knospen austreiben und der Monsun das Seine tut, „kräftig“, „herb-nussig“ und „kupferfarben in der Tasse“, wie Liebhaber den teuren Tropfen anpreisen. Nur eines bleibt gleich wie bei Piyari und denen, die weiter unten schuften: ihr Lohn und ihr Leid. Wer nicht das Glück hat, auf einer der „Fair Trade“-Tee-Terrassen zu arbeiten, wo die Pflückerinnen zumindest eine bessere Alters- und Gesundheitsvorsorge erhalten, dem bleibt nichts vom exquisiten Schein des schönen Darjeelings.
Wie ein Frosch im Brunnen
„Es ist eine Plagerei, die einen langsam kaputt macht. Das habe ich bei meiner Mama über all die Jahre hinweg gesehen“, sagt eine junge Frau im adretten grauen Pulli, blaue Krawatte darunter, fesches Sakko darüber. Sie heißt Nikita, ist 19 Jahre alt und steht für einen Ausweg. Ihrer Mutter wird am nächsten Tag, ähnlich wie Piyari, kein Wort des Klagens über die Lippen kommen. Es sind erst die Kinder, die begreifen, aus welch schwieriger Lage sie entkommen müssen, damit sich das Schicksal nicht wiederholt. Und es sind ihre Eltern, die sich nichts mehr wünschen, als dass ihnen das gelingt. „Sonst bist du gefangen wie ein Frosch im Brunnen, wie es bei uns in Indien heißt“, sagt ein Mann in weißer Albe, den die Lage der Pflückerinnen umtreibt wie kaum ein anderes Thema: „Sie werden ausgebeutet und mit Hungerlöhnen abgespeist. Obwohl sie so hart arbeiten wie kaum ein anderer, hausen sie in armen Hütten, haben selten Strom und oft nicht einmal eine Toilette. Und so geht das seit Generationen. Seit sie die Briten hergebracht haben.“ Der, der so spricht, ist Father Jose, ein Mann Gottes, ein Salesianer Don Boscos, der Rektor eines ihrer Colleges.
„Sie werden ausgebeutet und mit Hungerlöhnen abgespeist.„
„Dort hinzugehen, war für mich so realistisch wie eine Reise zum Mond“, sagt Nikita ganz ernst, „etwas weit Entferntes, Unvorstellbares. So ein guter Ruf, so eine tolle Ausbildung. Wie hätten sich meine Eltern, die beide in den Plantagen arbeiten, je so etwas leisten sollen?“ Der Weg des Mädchens schien daher vorgezeichnet. Erst ein paar Jahre an der staatlichen Schule: Lesen, Schreiben, ein wenig Rechnen, nicht mehr. Und dann, mit gut Glück, in den Vertrag der Mutter mit der Teeplantage einsteigen, abgeschlossen auf Lebenszeit. Ein Leben, bereits besiegelt, bevor es noch begonnen hat.
Über Sonada, der letzten Stadt vor Darjeeling, geht abrupt heftiger Regen nieder. Was dem Tee guttut, vertreibt Nikita und ihre Klassenkameraden fluchtartig ins Innere des Salesianer-Colleges. Sie hat es tatsächlich geschafft, studiert dort Welthandel und träumt von einer Karriere fernab der Ausbeutung. Dass so etwas möglich ist, hat Father Jose auf die Fährte von Robin Hood gebracht: „Wir nehmen von den Reichen und geben es den Armen.“ Er, der geborene Rhetoriker, ist Visionär zugleich und erklärt das Konzept. „Unsere Colleges sollen zu den besten im Vorderen Himalaya zählen. Wir zahlen den Lehrenden gute Gehälter, holen uns Top-Leute und können so hohe Studiengebühren verlangen. Zu uns kommen die Kinder der Plantagenbesitzer. Und zu uns kommen auch die Kinder ihrer Pflückerinnen. Und das Schöne ist: Die einen zahlen mit ihren hohen Schulgeldern indirekt unsere Stipendien für die anderen.“
Eine Brücke ins Ungewisse
An dieser Stelle könnte diese Geschichte eigentlich enden, käme nicht auf einmal eine gefährliche Hängebrücke ins Spiel. Sie ist brüchig, einige Bretter fehlen bereits, der Gebirgsbach darunter ist reißend und der Gang darüber entsprechend wackelig. Father Tomy, ein Mitbruder von Father Jose, wagt den ersten Schritt und winkt der Gruppe bald vertrauenserweckend zu. Stella und Ronit zögern nicht lange und überspringen die fehlenden Planken. Auch sie sind die Kinder von Pflückerinnen in Darjeeling und auch sie haben eines der begehrten Stipendien am Salesianer-College ergattert. Was sie nun aber auf eine Mission fernab der Schule, in eine felsige Schlucht und auf einen mehrstündigen Fußmarsch über unwegsames Gelände treibt, wird erst klar, als ein Dorf auftaucht. Dort, weit weg von Sonada, liegt eine weitere der 84 Teeterrassen von Darjeeling. Ihre Bewohnerinnen und Bewohner, auch sie mit Vorfahren aus Nepal, sind fast allesamt katholisch und haben sich in der Kirche zum Gebet versammelt. Freudig begrüßen sie Father Tomy in dem hölzernen Bau. Lobend erzählen sie ihm später von ihren Kindern, die so große Fortschritte machen würden.
Das verdanken sie auch Stella und Ronit, die regelmäßig den weiten Weg ins Dorf antreten. „Um etwas zurückzugeben“, wie sie selbst sagen, „denn wir haben mit unseren Stipendien eine unermessliche Chance bekommen. Kostenlos erhalten wir eine Ausbildung, die uns ganz neue Tore öffnen wird. Also kommen wir hierher, um den Kindern Nachhilfe zu geben, weil wir selbst wissen, wie wenig sie in den staatlichen Schulen lernen.“ Wie schon vorhin, bei Father Jose und seinem Robin Hood-Vergleich, ist es ein Deal, den die Salesianer hier abgeschlossen haben: Wachse selbst, aber lass die anderen auf deinem Weg nicht zurück. Lerne für dich und tu damit auch etwas für deine Gemeinschaft. Geh vielleicht einmal weg, aber vergiss nie auf Darjeeling, wenn du später einmal in Kalkutta, Delhi oder wo auch immer an einer Tasse mit teurem Tee nippst. Denn nur du weißt, was darin steckt.