Der Missionar, der in die Kälte ging

Schneestürme, Eis und Erfrierungen. Pater Leopold Kropfreiter zog es vom Waldviertel in die weiten Steppen Kasachstans. Dort, in einer Schule am Ende der Welt, fand er seine Berufung. Die allewelt trotzte der grimmigen Kälte und besuchte ihn.

Text: Christoph Lehermayr   Fotos: Francis Amomonpon

20 min Lesedauer

Reportage zum Anhören: Der Missionar, der in die Kälte ging

Aber reingehen tut ihr dann schon?“ Die Frage kam unerwartet und schien doch aufgelegt. Zuvor war die Rede vom Eis gewesen, dem zugefrorenen See im Dorf und dem tiefen Loch darin, das Männer mit Motorsägen metertief herausschneiden würden. Für den allewelt-Reporter und den Missio-Fotografen schien das alles kaum vorstellbar. Sie empfanden Respekt und ja, wohl auch ein wenig Furcht. Und dann war da Pater Leopold Kropfreiter, der diese Frage stellte. Er, 42 Jahre alt, davon 14 in Kasachstan und damit längst kälteerprobt.

„Wenn einer rein muss, dann du“, lautete der Versuch einer souveränen Antwort im Wissen, dass damit das Thema noch nicht abgeschlossen sein würde. Aber zuerst waren da andere, weit wichtigere Fragen. Etwa, was genau ein Priester aus dem Waldviertel fünftausend Kilometer Luftlinie entfernt macht, mitten in den Steppen Kasachstans? In einem Land, in dem kaum wer je zuvor war und das nicht gerade zu den klassischen Missionsgebieten der Kirche zählt? In der allewelt-Redaktion reifte ein Entschluss. Sonst für Recherchen vornehmlich im Globalen Süden unterwegs, würde man aufbrechen in dieses Reich der Kälte, um Antworten zu finden. Auch wenn sie vielleicht in diesem ominösen Loch im See lagen. Mit im Gepäck: Hauben. Mehr als hundert davon. Gestrickt aus bunter Wolle von einer lieben Frau in Niederösterreich. Bestimmt für die Kinder Kasachstans. Weiters an Bord: warme Stiefel, lange Unterhosen, eine Creme gegen die Kälte und ein Versprechen an Pater Leopold. „Wenn, dann kommen wir mitten im Winter, um das zu erleben, was du dort das halbe Jahr lang hast.“

Fata Morgana in der Steppe

Anfang Jänner landet frühmorgens eine Maschine in der kasachischen Hauptstadt Astana. Sobald die Schiebetür des Airports aufgeht, greift eine klirrende Wand aus Kälte nach den Besuchern. Sie fühlt sich an wie eine zittrige Hand, die einem nach und nach das Gesicht abzieht. Sofort rutscht der Reporter auf dem spiegelglatten Parkplatz des Flughafens aus. Der Fotograf blickt auf die beschlagene Linse seiner Kamera und meint, dass das mit dem Bildermachen noch lustig würde. Und Pater Leopold versucht sich, so gut es geht, ein Grinsen zu verkneifen und sagt: „Ihr habt es fein erwischt, es hat 23 Grad und es soll erst einmal auch so bleiben.“ Auf die Verwendung des kleinen Wörtchens „minus“ vor der Zahl verzichtet man in solchen Breiten zu dieser Jahreszeit ohnedies längst.

 Also geht es hinein nach Astana, die auf dem Reißbrett entworfene Hauptstadt des neuntgrößten Flächenstaats der Erde. Breite Straßen, gläserne Türme, viel Verkehr und pompöse, aufsehenerregende Architektur, die förmlich schreit: Seht her, wir sind nicht mehr die graue, muffige, furchteinflößende Sowjetunion, deren Teil wir siebzig Jahre lang waren. Eine blitzblanke, weiße Moschee gleitet an den Scheiben des Fahrzeugs vorbei. Sie ist noch im Bau und jetzt schon von gewaltigem Ausmaß. Später dann deren russisch-orthodoxes Gegenstück, die Mariä-Entschlafens-Kathedrale, verkleidet mit weißem Marmor. Im Gotteshaus eine Einheimische, die voller Stolz und Freude die Bedeutung jeder einzelnen Ikone erklärt. Und abends schließlich die Messe in der katholischen Kirche, Sitz des Erzbischofs, ein kleiner Bau aus Backstein, anmutig und heimelig zugleich, mit dem Bildnis der Madonna und dem Jesuskind, beide mit kasachischen Gesichtszügen, gemalt von einem Muslim. Verdutzt reibt man sich die Augen. Was ist das für eine Fata Morgana da mitten in der Steppe? Muslime, Orthodoxe und Katholiken – Spannungen oder gar Konflikte gebe es kaum, heißt es bald allerorten, man respektiere einander, achte sich und organisiere interreligiöse Friedenskonferenzen. Zur letzten, vor gut einem Jahr, kam auch Papst Franziskus nach Astana. An seiner Seite damals: Pater Leopold, seines Zeichens auch Missio-Nationaldirektor von Kasachstan.

Durch Stalins Gulag

Bald drängt dieser zum Aufbruch. Raus aus Astana, rein ins richtige Kasachstan. Die glitzernde Hauptstadt sei Abbild des durch den Ölreichtum bedingten Aufschwungs im Land, stünde längst aber nicht stellvertretend für dessen Rest.

 Schnell gleitet der Wagen durch eine nicht endende Ebene aus Schnee und Eis, mit kräftig blauem Himmel und einer strahlenden, doch kaum wärmenden Sonne darüber. Es geht nach Norden, in Richtung russischer Grenze, dorthin, wo Sibirien anfängt. Am Horizont tauchen Pferde auf. Zottelige Tiere mit dickem schwarzem Fell. In Herden traben sie wild durch das Wintergemälde, zu dem die Landschaft gefroren ist.

Josef Stalin sah darin einst den idealen Ort der Verbannung für seine Feinde oder alle, die er für solche hielt. Zu Millionen ließ er sie in die Steppen Kasachstans verfrachten. In Zügen oder gar zu Fuß, ausgeliefert der Kälte, ausgesetzt im Nirgendwo. „Auf diesem tragischen Weg gelangte auch der Katholizismus in großer Zahl ins Land“, erklärt Pater Leopold bei der Fahrt, „es waren Angehörige der deutschsprachigen oder auch polnischen Minderheit in Russland, in denen Stalin potenzielle Verräter vermutete und sie so in die Steppe sandte.“ Endstation Gulag, millionenfaches Leid an einem Schicksalsort zwischen Europa und Asien.

 Sechs Stunden dauert die Fahrt bei guter Witterung bis hinauf zu Pater Leopolds Wirkungsstätte. „Manchmal aber“, sagt er, „kann es auch weit länger sein, weil das Wetter schnell umschlägt, Schneestürme aufziehen, die Temperaturen dann auf bis zu 40 Grad runterrasseln und die Route durch Verwehungen unpassierbar wird.“ Es ist eine Reise durch ein schaurig-schönes Gebiet des Verschwindens, in dem einem oft über Stunden kein einziger Mensch begegnet und dessen paar Städte dazwischen sowjetischer wirken, als es Astana anfangs vermuten ließ.

Die Schule des Lebens

Und plötzlich, nach einem letzten Birkenwäldchen, taucht es auf: Korneewka, das Dorf mit einer der besten Schulen Kasachstans. Kleine Häuschen, vom Eis überzogene Straßen, einige tausend Menschen und der zugefrorene See. Pater Leopold hat in der einstigen Agrarbank sein Pfarrhaus vorgefunden. Unten, im Parterre, halten er und sein Priesterkollege aus Bayern Andacht und feiern mit der kleinen Gemeinde die Messe. Gleich darüber wohnen sie, und davor, in einer Koppel, schnauben ihre Pferde gegen die Kälte an. Ein eisiger, kurzer Spaziergang führt hinüber zur Schule, errichtet im vormaligen Gebäude der Bezirksleitung der Kommunistischen Partei. Gleich daneben, wo früher die Rote Armee ihre Einberufungsstelle betrieb, liegt das Wohnheim des Lehrpersonals. Und dann geht die Tür auf und plötzlich ist da nur noch Wärme: Kindergartenkinder, die voller Freude nach den mitgebrachten Hauben greifen, sie sich aufsetzen, miteinander tauschen, lachen und sich höflich für das Geschenk aus Österreich bedanken. Schülerinnen und Schüler in adretten Uniformen, die Pater Leopold, ihren Direktor, begrüßen, mit ihm auf Russisch plaudern und ihn fragen, ob er später bei der Vorführung dabei sein werde. Er nickt, hält dann Konferenz mit einigen aus dem Lehrpersonal, bespricht, ob für die Aufführung alles vorbereitet sei. Und dann, nach Stunden des Arbeitens, ein Moment der Ruhe, der Einordnung dessen, was wirkt wie ein Vorbild für Ausbildung. Und das mitten im Nirgendwo, an einem Ort am Ende der Welt.

70 Jahre ohne Priester

„Es ist das Ergebnis einer Pionierarbeit“, sagt Pater Leopold, „begonnen vom Berliner Pfarrer Lorenz Gawol gleich nach der Wende. Er kam an diesen Ort, in dieses Land, das 70 Jahre keinen Priester mehr gesehen hatte. Das deformiert und zugerichtet war von einer grauenvollen Ideologie und das damals durch eine brutale Transformation taumelte, in der sich alle früheren Gewissheiten auflösten. Genau hier gründete er die erste christliche Schule Kasachstans. In einem kleinen Haus, mit 13 Kindern und drei Lehrern.“ Als er nach zehn Jahren starb, übernahm Pater Leopolds Orden und führte mit Franziskaner-Schwestern aus Vöcklabruck fort, was Gawol begonnen hatte. Ganz getreu dessen geistigen Testaments, in dem stand: „Das beste Fundament eines jeden Lebens sind die Wahrheit und die Liebe.“ Heute besuchen 250 Kinder und Jugendliche die Schule mit ihren acht großen Gebäuden und ihren 100 Mitarbeitern. So entstand in einem Dorf, das dem Niedergang geweiht war, eine der besten Schulen des Landes.

Am Nachmittag haben sie sich alle in der Veranstaltungshalle versammelt, die Großen wie die Kleinen. Auch deren Eltern sind gekommen, sitzen stolz in den Reihen und sehen – aus unserer Sicht verspätet durch den orthodoxen Kalender – ein Krippenspiel ihrer Kinder: Perfekt inszeniert, mit Liebe und Eifer dargebracht, vorgeführt von und vor christlichen wie muslimischen Protagonisten und Gästen. „Es ist die universelle Botschaft der Gegenwart Gottes unter uns“, wird Pater Leopold später sagen, wenn er auch von Erntedank, Sankt Martin oder dem Nikolausfest berichtet, die alle an seiner Schule gefeiert werden. „Ja, unsere Schüler sind erfolgreich, viele schlagen gute Berufswege ein. Einige zieht es später ins Ausland, nach Deutschland oder Österreich, viele andere machen Karriere hier im Land. Aber all das vermittelte Wissen soll nicht nur als Vorbereitung auf eine materielle Welt dienen. Was wir ihnen hier mitgeben, ist das, was an vielen anderen Orten im Land fehlt: Ein geistiges Fundament, christliche Werte, eine Botschaft der Liebe, auf die sie ihr ganzes Leben lang zurückgreifen können.“

„Was wir den Schülern hier mitgeben, fehlt an vielen anderen Orten im Land: Ein geistiges Fundament, christliche Werte, eine Botschaft der Liebe, auf die sie ihr ganzes Leben lang zurückgreifen können.“

Pater Leopold Kropfreiter

Bis auf einen Beitrag für die Verpflegung ist der Besuch der Schule kostenlos, was durch Spenden finanziert wird und für eine private Bildungseinrichtung in Kasachstan einzigartig ist. Selbst ärmste Familien in der Region können ihre Kinder sorglos in die „Pastorenschule“ schicken, wie sie etliche in Korneewka längst liebevoll nennen. Gerade hier auf dem flachen Land, fernab jeglicher Städte, ganz nah an der Grenze zum immer noch mächtigen Nachbarn Russland, ist die Armut weiterhin groß. Abends, als es draußen dunkel ist und die Nacht voll bitterster Kälte auf 30 Grad unter Null zusteuert, dampft es drinnen bei einer solchen Familie förmlich. Aljona und ihr Mann Majran haben Pater Leopold zu sich nach Hause eingeladen. Gekocht wird kasachisch, gesprochen Russisch und gedankt, so wie es hier am ehrlichsten ist: mit wenigen Worten, dafür umso herzlicheren Gesten. Denn das Paar hatte sich zuvor krumm gearbeitet, kam dennoch nicht über die Runden, häufte Schulden an und sah die eigenen drei Kinder kaum noch. Also flohen sie aus der teuren Stadt ins Dorf, schickten ihre Kinder in Pater Leopolds Schule. Mit seiner Hilfe konnten sie nun selbst eine Ausbildung starten, um fortan besser zu verdienen. „Aber eigentlich“, sagt Aljona, die tatkräftige Ehefrau, mit Blick auf ihren Mann, „haben wir durch Pater Leopold erst gelernt, dass es das Wichtigste ist, füreinander und für unsere Kinder da zu sein, egal, was kommt.“

Ab ins Eis!

Sicher kommt jedenfalls die Epiphanie, das Fest der Taufe des Herrn im Jordan. Zu dessen Ehren steigen gemäß orthodoxer Tradition die Menschen ins Wasser, tauchen drei Mal unter, bekreuzigen sich dabei und sehen so laut Volksüberlieferung ihre Sünden des letzten Jahres als abgewaschen an. Noch untertags hat Pater Leopold erfahren, dass das Loch im See schon herausgeschnitten und die Treppe für die Eistaufe ins Wasser bereits angebracht sei. In der Schwärze der Nacht fassen er und seine Priesterkollegen einen Plan. Erst hinein in ihre Banja, die russische Sauna, und dann schnell runter zum See und ab ins Eis! Und ja, sie tun es wirklich, tauchen unter, jauchzen auf vor Kälteschmerz und laufen bloßfüßig in ein Handtuch gehüllt zurück zum Auto. Akzeptanz und Anerkennung der Örtlichen sind ihnen sicher, und darum geht’s auch.

Was in der Nacht schon verwegen wirkte, scheint am Vormittag des nächsten Tages aus Sicht der Besucher aus Österreich nur noch verrückt. Sie beobachten, wie die Männer des Dorfes seelenruhig in ihren alten Ladas aufs Eis hinausfahren, den Wagen abstellen, in der Badehose bei 27 Grad unter Null aussteigen und ganz gemächlich ins Wasser schreiten, so als seien sie gerade auf Badeurlaub an der Côte d’Azur. Doch das ist Korneewka und nicht ganz zufällig wartet am Rande des Spektakels auch ein wackeliger Bus mit dem Rotkreuz-Abzeichen und einer reschen Krankenschwester darin. Der Reporter kneift. Wie immer sind es die Fotografen, die mehr Mut an den Tag legen. Und so taucht Francis Amomonpon hinab ins Wasser. Nicht der Sünden wegen, aber voll der Anerkennung dafür, was Pater Leopold an diesem Vorposten des Glaubens leistet.

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