Auf Herbergssuche in Syrien

Eine Reise in das letzte christliche Dorf in den Bergen Syriens, in dem noch die Sprache Jesu gesprochen wird. Islamisten haben den Pilgerort im Krieg fast ausgelöscht. Nun keimt dort wieder Hoffnung. Auch dank einer beherzten Ordensschwester.

Text: Christoph Lehermayr Fotos: Salem Azrak
19 min Lesedauer

Reportage zum Anhören: Auf Herbergssuche in Syrien

Als Ilias seine Geschichte erzählt, streift er mit der Hand immer wieder über einen Holzbalken. So zärtlich und behutsam er das tut, so viel Gefühl er für das Holz aufbringt, so grausam wird das, was er dabei schildert. Er ist ein Mann mit tatkräftigen Händen, einem wachen Blick und definitiv keiner, der sich schnell fürchtet. Er mag das Gefühl, dem Schicksal einen halben Schritt voraus zu sein. Das ist kein Fehler, besonders nicht in seiner Heimat Syrien, einem Land, das seit dem Jahr 2011 kaum etwas anderes kennt als Krieg. Und so versuchte Ilias, Herr der Lage zu bleiben. In Maalula, so dachte er, wäre es für seine Familie und ihn noch am sichersten. Von Kämpfen war das abgeschiedene, seit fast zwei Jahrtausenden von Christen bewohnte Dorf bislang verschont geblieben. Es besaß keinerlei strategische oder militärische Bedeutung und lag weit entfernt von den Nestern des Aufstands gegen Machthaber Baschar al-Assad. Das Dorf, seine Kirchen und Klöster, all das waren Pilgerstätten. Vor dem Einbruch des Unheils kamen Besucher aus ganz Syrien, ja selbst dem Libanon, Iran und Irak hierher, darunter nicht wenige Muslime. Auch mit den lokalen muslimischen Familien gab es ein gutes Einvernahmen. Man kannte und schätzte einander, jeder lebte sein Leben, das dank des Tourismus kein schlechtes war. Bis zum 7. September 2013 – dem Anfang der Auslöschung.

Wohlkalkulierte Wut

Ein Felsmassiv zeichnet sich am Horizont ab. Zerklüftetes Gestein, in das sich kleine, weiße Häuser schmiegen. Aus der Ferne wirkt Maalula auch heute noch idyllisch. Eine Art syrisches Santorini, nur ohne Meer. Bis erste zerschossene Straßenschilder auftauchen und man zur Ruine des Einfahrtstors gelangt, an dem alles begann. Ein Auto, vollbepackt mit Sprengstoff, darin ein Mann. So beschreibt Ilias den Anfang. Was folgt, war der Versuch einer Vernichtung. Der Selbstmordattentäter jagte sich am Checkpoint der syrischen Armee in die Luft. Der Weg war frei für die selbsternannten Gotteskrieger. Die Islamisten stürmten in ihren Pick-ups das Dorf. Jeder, der sich nicht zum Islam bekehre, würde sterben, verkündeten sie und nahmen erste Geiseln. Und Ilias und die Seinen? Die harrten erst einmal aus.

Über den schroffen Felshängen von Maalula liegt das melkitisch-griechisch-katholische Kloster der Heiligen Sergius und Bacchus. Eine Trutzburg mit dickem Gemäuer, erbaut ab dem Jahr 313 nach Christus und damit eine der ältesten noch bestehenden Kirchen der Welt. Zwei frühchristlichen römischen Soldaten geweiht, die wegen ihres Glaubens ermordet worden waren, sollte das Kloster im syrischen Bürgerkrieg erneut zur Stätte des Martyriums werden. Ein kurzer Film führt heute das Unfassbare vor Augen. Darin zu sehen sind zerbrochene Kreuze, zerstörte Ikonen, ein geschändeter Altar. Und immer wieder die Bildnisse der Gottesmutter und des Messias mit herausgekratzten Augen. Was sich hier abspielte, war keineswegs nur blindem Hass geschuldet. Es war wohlkalkulierte Wut. Eine Orgie systematischer Zerstörung, begangen von den Islamisten der Al-Nusra-Front. Sie waren nach Maalula eingedrungen, um es zu vernichten und ermordeten gleich zu Beginn drei der Melkiten-Mönche.

Vaterunser auf Aramäisch

Und plötzlich der Klang von Kirchenglocken, ein Priester, der das Fass mit Weihrauch schwenkt und dabei den Litanei-Gesang anstimmt. Die Szenen der Zerstörung aus dem Film von vorhin noch in Erinnerung, kommt die Sonntagsmesse im Kloster dem Erwachen aus einem bösen Alptraum gleich. Nur, dass dieser real war. Was seither geschah, grenzt an ein Wunder. Das Kloster ist wieder aufgebaut, die Spur der Vernichtung in der Kirche so gut es ging getilgt. Lokale Freiwillige haben in Verbindung mit christlichen Hilfsorganisationen aus aller Welt das Unmögliche vollbracht und einer der wichtigsten Stätten des frühchristlichen Glaubens ihre Würde zurückgegeben. Selbst die von den Islamisten in Stücke geschlagene Altarplatte, die aus dem Altertum stammte, als das Gebäude noch ein heidnischer Tempel war, haben die Gläubigen restauriert – mitsamt der Rinne, durch die in jener Zeit das Blut der Opfertiere abfloss. Auch einige der wertvollen Ikonen konnten gerettet werden. Die Mönche hatten sie in Särgen, neben ihren eigenen Toten, aus dem Dorf geschmuggelt. Wahres Erschaudern kommt auf, als schließlich das Vaterunser aus allen Kehlen ertönt – auf Aramäisch. Denn Maalula ist das letzte verbliebene christliche Dorf Syriens, in dem sich die Sprache Jesu bis in die Gegenwart gehalten hat.

Eine, die die ganze Heilige Messe über bescheiden ganz hinten saß, ist mitverantwortlich für die Wiedergeburt von Maalula. Ihr Name ist Annie Demerjian und sie gehört der Kongregation der Schwestern Jesu und Mariens an. Bald nimmt sie einen an der Hand und führt hinaus. Vorbei am einstigen Pilgerhotel, das in Ruinen steht, geht es hinab in eine enge, tiefe Schlucht. In den Höhlen dazwischen hatten einst erste Christen Zuflucht gefunden. Eine von ihnen war die später heiliggesprochene Thekla, eine edle Jungfrau und Schülerin des Apostels Paulus. Laut der Legende trieben sie Schergen in den Berg hinein, vor dem sie zu beten begann, bis sich die rettende Schlucht öffnete. Maalula kam so zu seinem aramäischen Namen, der auf Deutsch übersetzt „Eingang“ lautet. Zuletzt hielten sich die Islamisten in den Höhlen verschanzt und beschossen von dort aus das Dorf. Westliche Spitzenpolitiker und Medien faselten zu dieser Zeit noch von friedvollen Rebellen und dem demokratischen Wandel in Syrien, während diese das griechisch-orthodoxe Kloster der Heiligen Thekla stürmten und dort die Oberin und zwölf Nonnen als Geiseln nahmen. Sie kamen erst nach vier Monaten bei einem Gefangenenaustausch frei.

Von den Islamisten entführt

Schwester Annie, die selbst im Dorf aufgewachsen ist, führt zum Haus ihrer Familie, von dem ein Stockwerk bis heute ausgebrannt blieb. Ihre zwei Brüder schildern, wie sie von ihrer Terrasse die Islamisten heranstürmen sahen und es nicht lange dauerte, bis sie vor ihnen standen. Junge Kerle, die wenigsten von ihnen Syrer, dafür Dschihadisten aus aller Welt, schwerbewaffnet, indok-triniert und zum Äußersten bereit. Die Brüder gerieten in Geiselhaft. „Einer setzte mir den Lauf seines Gewehrs an die Stirn und befahl, ich solle ihm die Schahada, das islamische Glaubensbekenntnis, nachsprechen, also konvertieren, nur dann ließe er mich am Leben“, erzählt einer der Brüder. „Da antworte ich ihm: Ja, tue es ruhig, töte mich, das ist immer noch besser, als unter solchen wie euch zu leben.“ Letztlich gelang es, die zwei Brüder gegen hohe Lösegeldzahlungen zu retten. Mit verbundenen Augen, ihre Körper völlig malträtiert, wurden sie mitten in der Nacht aus einem Auto gestoßen und im Nirgendwo ausgesetzt.

Geschändete Kirchen

So wie Ilias am Anfang zärtlich über das Holz streifte, so tut es Schwester Annie nun bei den Schultern ihrer Brüder. Sie, die Ordensfrau, die an vielen Orten Syriens den von Krieg und Sanktionen ausgehungerten Menschen hilft, erkannte bald, dass ihr Heimatdorf zu ihrer nächsten Mission würde. Nach Monaten der Belagerung war es der Assad-Armee gemeinsam mit christlichen Freiwilligen im April 2014 gelungen, den Ort von den Islamisten zurückzuerobern. Der Großteil der einst an die 3.000 Bewohnerinnen und Bewohner, 70 Prozent davon christlich, war längst geflohen. Maalula, das in den Fels geschlagene Dorf, lag wie eine offene Wunde blutend vor ihr. Die Kirchen waren geschändet und ausgebrannt, die Ikonen zerstört oder ins Ausland verschachert, kaum ein Haus schien noch bewohnbar. „Wir erkannten eines“, sagt Schwester Annie: „Wenn dieser Ort noch eine Zukunft haben und nicht für immer verschwinden soll, dann müssen wir sie ihm geben.“ Und so kreuzten sich die Wege von Schwester Annie und Ilias.

Mission Wiederaufbau

Ilias hatte seine Familie in jenen unheilvollen Tagen in Sicherheit gebracht und harrte mit den anderen Männern aus, um das Dorf zu verteidigen. „Als die Islamisten begriffen, dass wir uns wehrten, zogen sie hinauf in die Felsen über Maalula.“ Sie verschanzten sich oben im Pilgerhotel und im Melkiten-Kloster und begannen, von dort aus das Dorf ins Visier zu nehmen. „Sie bauten Brandbomben und warfen sie mit brennenden Autoreifen auf das Dorf. Unsere Kirchen und Häuser hier sind zig Jahrhunderte alt, aus Lehm, Stein und Holz gebaut. Wir hatten keine Chance, wollten wir nicht alle in den Flammen sterben.“ Ilias, wie Schwester Annie hier geboren, musste fliehen. „Ich betete zur Gottesmutter, dass das Gute am Ende über das Böse siegen würde. Ich legte ihr all unserer Schicksale zu Füßen und spürte in dem Moment, als ich ging, dass ich wieder zurückkehren werde. Gott würde uns nicht im Stich lassen.“

Genauso kam es. Ilias, ein ausgebildeter Architekt, und Schwester Annie, eine beherzte Ordensschwester, fassten einen gemeinsamen Plan. Sie würde versuchen, Gelder von christlichen Hilfsorganisationen zu beschaffen. Und er würde damit den Wiederaufbau der alten Häuser angehen. Doch von all den Schwierigkeiten auf dem Weg ahnten sie anfangs noch nichts. Zusammen streifen die beiden durch den ältesten Teil des Dorfes. Manche der Gebäude dort waren im ersten und zweiten Jahrhundert nach Christus errichtet worden. Die Gassen sind eng, immer wieder unterbrechen steinerne Tore den Weg. Es braucht Esel, um das Gestein für die Rekonstruktion herbeizuschaffen. Dazu viel Fachwissen, etliches an Geduld und auch entsprechendes Geld. Dafür sorgte Schwester Annie, die neben anderen mit „Kirche in Not“ und dem französischen „L’Œuvre d’Orient“ zwei verlässliche Partner fand. Die Bilanz kann sich sehen lassen: 108 Häuser konnten dank großzügiger Spenden bereits wieder aufgebaut werden, weitere 40 sind geplant. Mit ihnen kehrten die ersten der früheren Bewohnerinnen und Bewohner zurück. Viele von ihnen waren zuvor nach Damaskus geflohen, hofften aber Maalula nicht für immer verloren zu haben.

 Maria über Maalula

„Doch der Neuanfang ist schwer“, gesteht Schwester Annie, „denn im Unterschied zu früher kommen nur wenige der Pilger, von denen der Ort einst lebte. Syriens Wirtschaft ist ruiniert, die Leute sind arm, viele hungern, die Sanktionen tun ihr Zusätzliches, Strom gibt es vielleicht für eine Stunde am Tag und die Preise steigen weiter wie verrückt.“ So wird versucht, andere Einkommensquellen für die Rückkehrer zu erschließen. Eine kleine Marmeladenfabrik entstand, neuerdings werden Pfirsiche angebaut und an den Hängen von Maalula gedeiht seit langem erstmals wieder der Wein. Auch die Volks- und eine Mittelschule konnten öffnen. Bereut hat die Rückkehr noch keiner, wie Samen Kalloume sagt. Er sitzt im Rollstuhl, betreibt mit seiner Frau ein kleines Geschäft und zählte zu den Ersten, die wieder ins Dorf kamen, nachdem es von den Minen der Islamisten geräumt war. Sein Geburtshaus gehört zu jenen, die wieder aufgebaut wurden. Schaut er von dort aus dem Fenster, sieht er etliche der 22 Kirchen des Dorfes, die nach und nach wieder zu ihrer einstigen Form finden. „So wie früher wird es nie mehr werden“, sagt er, „aber das gilt für ganz Syrien. Wir alle leiden, wir alle kämpfen. Aber hier habe ich eine Herberge und bin unserem Herrn näher als überall anders.“

Sein Blick geht hoch zur Gottesmutter, die als drei Meter große Statue auf einem Felsen über Maalula thront. Islamisten hatten das Original in den ersten Tagen ihrer Schreckensherrschaft zerstört. Nun ist sie, auch unter Mithilfe einiger w ohlgesonnener Muslime aus dem Ort, als „Patronin des Friedens“ zurückgekehrt. Maria wird über Maalula wachen, wo die Menschen trotz ihrer Mühsal voller Freude auf Weihnachten warten.

Syriens dezimierte Christen

Syrien gilt als eine der Wiegen des Christentums. Saulus wurde auf dem Weg nach Damaskus zum Paulus. Bis zur Ausbreitung des Islam im 7. Jahrhundert blieb das Gebiet mehrheitlich christlich. Vor Beginn des Bürgerkriegs stellten die zwölf verschiedenen christlichen Glaubens-richtungen zehn Prozent der Bevölkerung. Niedrige Geburtenraten und hohe Auswanderquoten beschleunigen seither einen dramatischen Rückgang.

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