Aleppo, du Widerspenstige
Eine Stadt, bedroht, belagert und fast vernichtet. In ihr eine Frau, die erst dem Krieg trotzt und auch bleibt, als viele fliehen. Sie wird zu einer Kämpferin. Für all die, deren Hoffnung lebt. Eine wilde Fahrt durch das syrische Aleppo mit der Christin Carla.
Plötzlich, inmitten einer Geschichte, die sie gerade erzählt, hört Carla Audo auf zu sprechen. Sie streift sich eine Strähne ihres langen schwarzen Haares aus dem Gesicht und starrt aus dem Fenster des Autos. Ein Straßenzug gleitet vorbei. Bröckelnde, pulverisierte und von Tausenden von Kugeln durchsiebte drei- bis vierstöckige Bauten. Eingänge zu einstigen Geschäften, denen die Auslagen fehlen und die wie offene, klaffende Wunden daliegen. Eine Schneise der Zerstörung, wie so viele in Aleppo, Syriens zweitgrößter Stadt. Aber irgendetwas ist anders. Carla späht vorsichtig aus dem Auto nach oben, hoch zu den Dächern, so als ob dort etwas lauere. „Hier befand sie sich“, sagt sie schließlich, „die ‚sniper alley‘, wie wir sie nannten. Ein Straßenzug, in dem sich die Scharfschützen verbargen.“ Wer ihn queren musste, lief um sein Leben, nie wissend, ob nicht gleich Schüsse fallen würden. „Aber die Straße war eine wichtige Verbindung, also blieb keine Wahl. So rannten wir. Später spannten sie Plastikplanen darüber. Damit den Snipern zumindest die Sicht versperrt war.“
Aleppos Armageddon
Gut elf Jahre ist all das her. Der Beginn des Krieges. Der Anfang des Absturzes von Aleppo. Eine uralte, einst wohlhabende Stadt, ein Handelszentrum, ein Weltkulturerbe, ein Ort, an dem Muslime wie Christen friedlich lebten. Wo Moscheen neben Kirchen standen, und wo auf Weihnachten das Opferfest folgte. Carla war damals 22. Eine junge Frau, Christin, mit armenischen und syrisch-chaldäischen Wurzeln, wie sie für die Glaubensvielfalt der Levante typisch sind. Sie hatte gerade begonnen, Bauingenieurwesen zu studieren, lernte, ging aus, lachte viel und genoss das Leben. Bis alles zerbrach. Und Aleppo zu einem Armageddon wurde.
Das gelbe Taxi stoppt. Carla eilt über Stiegen hoch in eine kleine Wohnung. Krikor heißt der Mann, der sie herzlich begrüßt. Er steht am Anfang seines dritten Lebens. Sein erstes endete mit 18 Jahren, als der Krieg kam und er in die Armee einberufen wurde. Wie jeder männliche Syrer, sofern dieser nicht der einzige Sohn der Familie war, musste er fortan dienen. Auf unbestimmte Zeit, wie es seit Kriegsbeginn hieß. Wehrdienst in einer Diktatur, im erbarmungslosen Kampf gegen Aufständische, die bald große Teile des Landes unter ihre Kontrolle bringen würden. Im Unterschied zu vielen seiner Kameraden überlebte Krikor. Unvorstellbare zehn Jahre sollte es dauern, bevor die Armee ihn ziehen ließ. Krikor, der Christ, der nie kämpfen wollte, trug als Mahnmal einen Körper übersät von Wunden davon und eine Seele, die langsam heilt. Auch, weil zu Hause eine liebe Frau und ein Sohn auf ihn warteten. Doch der passionierte Tischler stand jetzt vor dem Nichts. Keine Arbeit, kein Geld, keine Perspektive. Dann kam Carla ins Spiel.
„Wie oft stellte ich mir in all den Jahren des Krieges die Frage, ob ich und wir alle hier noch eine Zukunft haben“, sagt Carla später, als sie durch den ältesten Teil von Aleppo führt. Dort, rund um den Basar, einer Handelsstätte, deren Geschichte 5.000 Jahre zurückreicht, wird so klar wie nirgendwo anders, was dieser Krieg anrichtete. Während der Westen damals noch den friedlichen Aufstand gegen den Macht-haber Baschar al-Assad herbeifantasierte, hatten in Aleppo längst Islamisten die halbe Stadt unter ihre Kontrolle gebracht. Aufmunitioniert von ihren Gönnern in Saudi-Arabien, Katar und der Türkei, strömten Dschihadisten aus der ganzen Welt zum selbst ausgerufenen „Heiligen Krieg“ nach Syrien. In Aleppo verschanzten sie sich auch in den uralten Gängen des gewaltigen Basars, verminten den Souk, die Karawansereien und nahmen die Zitadelle ins Visier, die Assads Armee hielt. Vier Jahre lang wurde Aleppo belagert und konnte nur noch über Schleichwege versorgt werden. Die Armee und deren russische Verbündete bombardierten die Stadt aus der Luft, Islamisten terrorisierten sie am Boden. Am Ende waren 31.000 Menschen tot. Übrig blieb ein staubiges Meer aus Trümmern. Absolute Zerstörung. Ein Stalingrad unserer Zeit.
Syriens letzte Christen
Vor Ausbruch des Krieges lebten 250.000 Christinnen und Christen in Aleppo und stellten zehn Prozent der Bevölkerung der Stadt – der höchste absolute Anteil in ganz Syrien. Gerade sie gerieten zwischen die Fronten. Während ihnen die einen allzu große Nähe zur Staatsmacht vorwarfen, trieben auf der anderen Seite Islamisten deren Auslöschung voran. „So viele unserer Kirchen wurden zerstört“, sagt Carla, „so viel von unserem Erbe geschändet. Und so viele von uns flohen aus dem Land. Gebäude lassen sich jedoch wieder aufbauen, aber Menschen, die einmal alles hinter sich gelassen haben, kann niemand mehr zurückholen.“ Das Thema bewegt sie und ihre Geschwister im Glauben wie kein anderes. In ganzen Vierteln, die zuvor christlich geprägt waren, stehen nun Häuser leer, die nach und nach von Muslimen übernommen werden. Syrien, eine Wiege des frühen Christentums, droht zum Land ohne diese zu werden. Geschieht nichts, stirbt laut Studien in Aleppo im Jahr 2059 der letzte Christ.
Als Carla, trotzig wie sie ist, für sich beschlossen hatte, trotzdem zu bleiben, egal, was kommt, keimte dennoch Hoffnung in ihr. Erst auf ein Ende der Belagerung, dann des Krieges und später all der Entbehrungen. Aber, auch das war bald klar: Nur hoffen allein reicht nicht. „Will man, dass es uns als Christen hier weiter gibt, muss man für uns auch etwas tun, damit wir eine Perspektive bekommen. Den einen Grund, zu bleiben.“ Carla traf auf Freddy und Safir, zwei Unternehmertypen, die das ähnlich sahen und einen Plan hegten. Sie gründeten das „Christian Hope Center“, eine Organisation, die Christinnen und Christen konkret helfen soll und etwa einem Mann wie Krikor einen Start in sein drittes Leben ermöglichte.
Stolz steigt dieser die Treppen in einen Keller hinunter. Dreht das Licht an, das er über Stromgeneratoren teuer bezahlen muss, und zeigt seine Werkstatt. Er, der Tischler, hat vom „Hope Center“ die Geräte finanziert bekommen, mit denen er sich seinen Weg zurück in ein normales Leben baut. „Aufträge gibt es genug“, sagt er und zeigt am Handy Bilder seiner letzten Werkstücke. „So viel ist kaputt, da hat man als Tischler reichlich zu tun.“
Im Würgegriff
Wenn das gelbe Taxi mit Carla darin durch Aleppo fährt, sind Menschen wie Krikor das Ziel. Solche, die nicht aufgeben, die anpacken, die aber einen Anschub brauchen. Diese eine Zufuhr an Atemluft. Denn Syrien gleicht heute einem Patienten am Sterbebett. Erst fast erwürgt vom Krieg. Dann mit einer engen Schlinge um den Hals liegen gelassen, in Form westlicher Wirtschaftssanktionen. Diese sollten sich eigent-lich gegen den Machtapparat richten, treffen aber in Wahrheit die gewöhnlichen Menschen am meisten und treiben sie in völlige Armut. Denn sie verhindern auch den Import von Technik, die nötig wäre, um zerstörte Infrastruktur wie Stromnetze und Kraftwerke wieder aufzubauen. So aber bleibt alles rationiert. Lebensmittel genauso wie Strom, der staatlich nur eine Stunde am Tag fließt. „Ganz ehrlich: Die Lage ist jetzt noch schlimmer als im Krieg“, sagt Carlas „nächster Patient“, der beatmet werden muss. Er heißt Elias, ist ebenso ein quirliger Macher wie Krikor und gelernter Drucker. „Der Strom aus den privaten Generatoren kostet umgerechnet sechs Euro in der Woche. Das reicht aber gerade einmal für die Beleuchtung“, erzählt er. „Willst du, dass auch der Kühlschrank läuft, brauchst du mehr Strom und der kostet weitere sechs Euro. Das Problem ist: Ein einfacher Arbeiter verdient 30 Euro – aber im Monat!“ Die horrende Inflation und die kollabierende Währung fressen die Einkommen auf. Nur die Preise für Brot, Reis, Zwiebel und Zucker sind staatlich gestützt. Alles andere wird unerschwinglich, kostet doch etwa ein Kilogramm Hühnerfleisch auf dem Schwarzmarkt acht Euro. Und trotzdem bleibt auch Elias einer, der sich weiter durchbeißt. Dank eines Mikrokredits des „Hope Centers“ hat er sich Gerätschaft besorgt, um Prints auf Kleidungsstücke zu drucken. Er beschäftigt sechs Mitarbeiter, hat genug Aufträge und schuftet von früh bis spät.
Und dann bebte alles
Manchmal aber kommen sie trotzdem, die Momente, in denen sich jeder von ihnen fragt, woher sie die Kraft für den täglichen Kampf noch nehmen sollen? Wissend blickt Carla dabei auf Jony, ihren Fahrer, als sie wieder im Taxi sitzen und er den Motor startet. „Du strampelst und strampelst und hast doch das Gefühl, keinen Meter zu machen“, sagt er. Vor dem Krieg arbeitete er als Fotograf, hatte sein eigenes Studio und lichtete Familien in ihren schönsten Momenten ab. Taufen, Geburtstage, Hochzeiten. Nichts davon blieb. Wenn Jony heute durch das ausgehöhlte Gerippe streift, in dem sich sein Studio befand, schluckt er den Schmerz hinunter. „Aufstehen, abputzen, weitermachen“, sagt er, „anders geht es nicht.“ Auch er ist einer der Hunderten in der Stadt, dem das Mikrokredit-Projekt des „Hope Centers“ einen Neuanfang ermöglichte. Er erwarb damit das gelbe Taxi, das ihm nun ein Einkommen liefert und dabei hilft, auch seinen alten, taub gewordenen Vater zu versorgen, mit dem er gemeinsam lebt.
Und so lief alles irgendwie weiter. Die Syrer waren zu Meistern der Improvisation geworden. Bis zum 6. Februar. Als um 4:17 Uhr in der Früh die Erde bebte. „Wir wachten auf. Es war ein Rums, wie ein Stein, der zerbricht. Wir wollten rauslaufen“, erinnert sich Roula und zeigt hoch zu einem Haus, von dem nur noch die Hälfte steht. Sie tritt hinein, obwohl das längst untersagt ist. Geröll türmt sich, Risse ziehen sich durch das Stiegenhaus. Wohnungstüren führen, würden sie geöffnet, direkt in den Abgrund. „Da begriffen wir, dass es unser Haus ist, das halb weggebrochen war“, sagt die Apothekerin, „und dass wir in der Falle saßen.“ Über Stunden beteten sie, ihr Mann und die drei Kinder ein Ave Maria nach dem anderen. Vier ihrer Nachbarn lagen tot unter den Trümmern. Sie selbst wurden nach Stunden über Leitern gerettet. Roula öffnet im obersten Stock die Tür zu ihrer einstigen Wohnung. Es ist ein elegantes, riesengroßes Appartement, das zurückführt in eine Zeit, in der viele der christlichen Familien wohlhabend waren. Risse laufen auch dort über all die Wände. „Der Rest des Hauses wird abgetragen werden. Aber eine Entschädigung für unsere Wohnung, die wir einst teuer gekauft haben, zahlt uns keiner“, sagt Roula, die längst mit ihrer Kraft und den Nerven am Ende ist.
Von der Welt vergessen
So wie ihr geht es vielen in Aleppo. Das Erdbeben war der letzte Schlag auf einen ohnedies schon halb tot Geprügelten. „Ein Weckruf vielleicht, dass es allerhöchste Zeit wäre, von hier zu verschwinden“, sagt Carla. Sie sitzt in einer Bar in einem der christlichen Viertel. Arabische Musik spielt. Falafel-Bällchen, Pitabrot, Hummus mit Pistazien und Oliven machen die Runde. Es gibt kühlen Weißwein. Von draußen weht ein angenehm warmer Wind. „Aber all das zurücklassen?“, fragt Carla, „unsere Heimat, unsere Familien, unser Erbe? Wie die Millionen von Syrern, die schon weg sind? Sind die alle im Ausland denn jetzt so glücklich? Ich kann das nicht! Ich wünsche mir eine Zukunft hier!“
Dabei gleicht Syrien, schon mehrmals wiederbelebt und immer wieder intubiert, weiterhin dem Patienten am Sterbebett, voller Kanülen und Schläuche, fern davon, frei zu atmen. So sehr die Welt am Beginn der Aufstände auf das Land sah, alles verfolgte, Reporter schickte, die selbst in Dschihadisten noch Freiheitsfanatiker zu entdecken glaubten, so wenig fühlen sich die Menschen nun, seit das Regime die Kontrolle über die Bevölkerungszentren zurückgewonnen hat, von dieser Welt weiter beachtet. „Am stärksten fiel mir das einmal zu Weihnachten auf“, erinnert sich Carla, „wir alle konnten nach so vielen Jahren das erste Mal wieder in der vom Krieg zerstörten St.-Elias-Kathedrale feiern. Der Wiederaufbau hatte gerade begonnen. Mit dem Chor, dem ich angehöre, sangen wir die Mozart-Messe. Das Dach fehlte. Es war bitterkalt und dann begann es, in die Kirche hereinzuschneien. Was für eine schöne Christnacht, was für eine Gemeinschaft, welch starkes Zeichen des Aufbruchs und der Hoffnung inmitten der Trümmer!“ Endlich eine gute Nachricht, von wo sonst nur vom Elend berichtet wird, dachte Carla. „Am nächsten Tag stöberte ich also neugierig auf den Internetseiten internationaler Medien, erwartete mir dort große Berichte. Und fand doch kein einziges Wort über uns.“
Nachträglicher Hinweis:
Diese Reportage entstand im Frühsommer 2023. Seither haben sich die Ereignisse in Syrien überschlagen. Das Assad-Regime stürzte am 8. Dezember 2024. Islamistische Kräfte, deren Anführer aus den Reihen eines al-Qaida-Ablegers stammt, gelangten an die Macht. Dies löst gerade bei der christlichen Minderheit eine Mischung aus Ungewissheit und Furcht über die Zukunft ihres Landes aus. Carla Audo lebt weiterhin in Aleppo und hofft auf eine Besserung der Lage.

Wiege ohne Christen
Syrien war bis zur Ausbreitung des Islam im 7. Jahrhundert mehrheitlich christlich. Noch vor Beginn des Bürgerkriegs stellten die zwölf verschiedenen christlichen Konfessionen im Land zehn Prozent der Bevölkerung. Doch eine niedrige Geburtenrate gepaart mit einer hohen Auswanderungsquote beschleunigen seither einen drastischen Rückgang. Viele der verbliebenen christlichen Familien, die einst der Mittelschicht angehörten, stürzen in die Armut.
